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Philip Julius

"Erzähl doch mal… Marco!"

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„Es ist und bleibt beschämend und entwürdigend, erleben und erfahren zu müssen, mit welcher Vehemenz, Ignoranz und Respektlosigkeit die Kostenträger sich immer wieder dagegen wehren, die uns zustehende Unterstützung zu gewähren. Es ist manchmal nicht so einfach, sich dann nicht als unerwünscht und am Rande der Gesellschaft zu fühlen.“ Marco ist Vater einer schwerbehinderten Tochter. Nur mit einem gut organisierten „Buddie“-System kann die Familie ihren Alltag meistern.
Die Rubrik „Erzähl doch mal…!“ erscheint monatlich auf unserer Homepage und stellt jeweils eine Familie mit einem besonderen Kind vor. Hier werden individuelle Geschichten erzählt und Wünsche und Ziele geteilt, die alle in erster Linie eines tun sollen, nämlich Mut machen.

Marco mit Amelie © Anjuscha Wörmann
Marco mit Amelie © Anjuscha Wörmann

PJeV: Wie sieht Deine Familie aus?
Marco: Wir sind zu Dritt: Mama Birgit (46), Papa Marco (44) und unsere kleine „Wundertüte“ Amelie (10). Aus ihrem Spitznamen entstand übrigens auch der Name für unseren Blog.
Ursprünglich war es unser Wunsch, zwei Kinder zu haben. Das andere, „besondere“ Leben mit Amelie hat unsere Planungen aber völlig über den Haufen geworfen.
Wann und wie hast Du von der Behinderung Deines Kindes erfahren?
Bei Amelies Geburt ist so ziemlich alles schief gelaufen, was schief laufen konnte. Die Details des Geburtsverlaufes lasse ich hier ganz bewusst außen vor, da die Umstände doch traumatisch für uns waren – und immernoch sind.
Letztlich ist Amelie per Not-Kaiserschnitt, fast leblos, zur Welt gekommen; wir wussten einige Tage nicht, ob sie es überhaupt schafft – aber Amelie hat da schon gezeigt, dass sie eine kleine Wundertüte ist. Letztlich ist also der tragische Geburtsverlauf ursächlich für Amelies Behinderung.
Inwiefern ist Dein Kind beeinträchtigt und wie gehst Du damit um?
Die Sauerstoffunterversorgung während der Geburt hatte eine massive Hirnschädigung zur Folge. Daraus entwickelte sich eine bilaterale spastische Cerebralparese – Amelie kann weder sitzen noch stehen oder laufen, sie kann nicht sprechen und ist permanent und rund um die Uhr auf fremde Hilfe angewiesen.
Die ersten Monate waren für uns eine sehr schwierige, fast surreale Phase. Zum einen mussten meine Frau und ich versuchen, irgendwie mit den traumatischen Erlebnissen der Geburt zurecht zu kommen – was im Nachhinein betrachtet eigentlich unmöglich war.
Zum anderen konnten wir nicht annähernd einordnen oder gar wissen, welche Auswirkungen Amelies Hirnschädigungen haben werden. Wie wird sich Amelie entwickeln, was kommt noch auf uns zu? Wir fühlten uns in der ersten Zeit völlig verloren, hilf- und orientierungslos, wie in einem Dauer-Schockzustand oder in Trance. Letztlich haben wir nur für Amelie funktioniert und alles andere zunächst komplett ausgeblendet.
Die Situation spitzte sich weiter zu, als Amelie bereits nach einigen Monaten eine BNS-Epilepsie, auch West-Syndrom genannt, entwickelte und wir für vier Monate stationär in die Uni-Klinik Münster aufgenommen werden mussten. Da gab es keine Zeit und keinen Raum zum Durchatmen.
Es hat deshalb einige Zeit gedauert, bis wir überhaupt in der Lage waren, alles einzuordnen, zu sortieren und zu reflektieren. Dabei haben uns enge Familienmitglieder und Freunde sehr geholfen und unterstützt. Es war uns relativ schnell klar, dass wir Unterstützer – wir nennen sie liebevoll „Buddies“ – brauchen und wir es ohne diese Unterstützung nicht alleine schaffen werden. Hilfe zuzulassen ist schon schwer. Sich aber einzugestehen, dass man dauerhaft auf fremde Hilfe angewiesen sein wird, dass die Waage immer in unsre Richtung ausschlagen wird, das war emotional ein schwerer Schritt. Gut, dass wir ihn so früh gemeistert haben.
Heute können wir – vielleicht auch mit ein wenig Stolz – sagen, dass wir relativ gefestigt mit der Gesamtsituation umgehen können: Wir sind – bei allen ganz natürlichen Hochs und Tiefs – ein tolles Dreier-Team mit einem tollen und breiten Netzwerk an „Buddies“.

Amelie © Hermann Pentermann
Amelie © Hermann Pentermann

Wie sieht Dein Alltag aus?
Bei uns klingelt morgens um 5:45 Uhr der Wecker – falls unser „natürlicher“ Wecker Amelie nicht schon vorher wach ist. Dann machen wir Amelie fertig für die Schule; um kurz vor 7 Uhr kommt bereits Amelies Bulli-Team, um Amelie abzuholen. Amelie geht zur Horst-Koesling-Schule in Osnabrück – eine staatlich anerkannte Tagesbildungsstätte der Heilpädagogischen Hilfe und eine wirklich tolle Einrichtung. Wenn Amelie aus dem Haus ist, haben meine Frau und ich etwas Luft, um uns in Ruhe für den Tag fertig zu machen. Ich arbeite in Vollzeit, meine Frau – nachdem sie aufgrund der Pflege von Amelie ihren Job aufgegeben hatte – mittlerweile wieder in Teilzeit für 20 Stunden.
Nachmittags gegen 15:15 Uhr kommt Amelie zurück; dann ist entweder meine Frau oder einer unserer „Buddies“ zuhause, um Amelie in Empfang zu nehmen. Ich versuche, immer rechtzeitig zuhause zu sein, bevor Amelie ins Bett geht – um so nochmal ein bisschen „Papa-Zeit“ mit ihr zu verbringen. Amelie wartet immer schon ganz gespannt auf mich und erkennt es immer schon am Geräusch des Schlüsselumdrehens im Haustürschloss, dass ich (endlich!) nach Hause komme.
Abends, wenn Amelie im Bett ist, bin ich oft noch lang im „Amelie-Office“. Wenn man ein schwer beeinträchtigtes Kind hat, stehen sehr viele bürokratische Themen und jede Menge an Schriftverkehr an. Anträge schreiben an die Kassen und Sozialträger, endlos lange Formulare ausfüllen und letztlich meist dann das Widerspruchsverfahren, wenn die Anträge – mal wieder – abgelehnt wurden. Meine Frau und ich teilen uns das „Amelie-Office“ auf: Ich kümmere mich um die Bürokratie und alles Schriftliche, meine Frau um die „Buddies-Organisation“.
Unsere Nächte sind mittlerweile – glücklicherweise! – gut; Amelie wird zwar öfters wach, schläft aber schnell wieder ein. Das war in den ersten Jahren noch ganz anders. Rückblickend frage ich mich oft, wie wir das alles – gepaart mit dem Schlafmangel – eigentlich so hinbekommen haben. Das zeigt mal wieder, wozu wir Eltern besonderer Kinder in Extremsituationen imstande sind. Man geht weit über seine Grenzen hinaus. Über Jahre.

Amelie © Anjuscha Wörmann
Amelie © Anjuscha Wörmann

Was macht Dich im Alltag glücklich? Und welche Momente sind hingegen besonders schwer?
Es gibt immer wieder tolle berührende Momente und Entwicklungen, die meine Frau und mich glücklich machen. Das sind klitzekleine, private und emotionale Situationen innerhalb unserer kleinen dreiköpfigen Familie. Das sind aber auch vergleichsweise „große“ Therapieerfolge. Dann erleben wir, dass sich unser Engagement auszahlt, Amelie und wir als Familie davon profitieren.
Letztlich freuen wir uns jeden Tag aufs Neue, wenn Amelie uns bereits morgens erwartungsfroh anlächelt. Eines hat Amelie uns gelehrt: eine neue Wertschätzung des Moments und der kleinen Dinge.
Es gibt aber zugegebenermaßen auch genauso oft die schweren Momente – die kündigen sich zudem leider auch nicht immer an. Das sind Gefühle der überwältigenden Trauer, andere Familie mit gesunden Kindern zu sehen. Das sind ernüchternde Diganosen wie vor einigen Jahren, als uns die Notwendigkeit von Amelies Hüft-OP mitgeteilt wurde. Das ist aber auch der alltägliche Ärger und ständige, zermürbende Kampf mit den Kostenträgern, wenn es um die Bewilligung uns zustehender Hilfen und Unterstützung geht. Es ist und bleibt beschämend und entwürdigend, erleben und erfahren zu müssen, mit welcher Vehemenz, Ignoranz und Respektlosigkeit die Kostenträger sich immer wieder dagegen wehren, die uns zustehende Unterstützung zu gewähren. Es ist manchmal nicht so einfach, sich dann nicht als unerwünscht und am Rande der Gesellschaft zu fühlen. Glücklicherweise lasse ich mich davon nicht unterkriegen – mich beflügelt es vielmehr, mich dann noch stärker zu engagieren.
Wer betreut Dein Kind? Wie habt Ihr die Pflege organisiert?
Wir haben uns – wie ich schon kurz angedeutet habe – im Laufe der Zeit ein gutes und funktionierendes Netzwerk an „Buddies“ aufgebaut. Das sind wunderbare Menschen, die sich liebevoll um Amelie kümmern und uns bei der Pflege entlasten. Zu den „Buddies“ gehören Amelies Großeltern sowie auch Tanten und Onkel – aber auch junge Mädchen und Frauen, die wir über verschiedene Wege kennengelernt haben: über die Lebenshilfe Osnabrück, über ein Praktikum oder ein FSJ in Amelies damaligem Kindergarten bzw. ihrer jetzigen Schule. Es gibt eine Betreuuerin, die sich bereits seit sechs Jahren um Amelie kümmert. Amelie ist vor Freude jedes Mal völlig aus dem Häuschen, wenn es an der Tür klingelt und einer ihrer „Buddies“ für einige Stunden kommt, mit ihr spielt, Ausflüge macht.
Unsere „Buddies“ sind unersetzlich für uns.
Was machst Du beruflich? Und wie sieht Dein Arbeitsalltag aus?
Ich bin Journalist und arbeite als Pressesprecher eines kommunalen Infrastrukturdienstleisters in Osnabrück. Meine Arbeitszeiten sind somit relativ flexiblel – was Vor -und Nachteile hat. Einerseits kann ich relativ gut „Amelie-Termine“, z.B. bei Ärzten, auch vormittags oder nachmittags wahrnehmen. Andererseits habe ich auch berufliche Abendtermine und muss auch mal am Wochenende arbeiten. Dennoch bietet mir mein berufliches Umfeld eine gute und wichtige Flexibilität, die für das Funktionieren unsrer Familie notwendig ist.
Meine Frau ist Diplom-Psychologin und arbeitet mittlerweile wieder in einer Beratungsstelle. Auch sie kann ihre Arbeitszeiten glücklicherweise relativ flexibel gestalten.

Amelie © Detlef Heese
Amelie © Detlef Heese

Was bedeutet Urlaub für Euch?
Grundsätzlich bedeutet Urlaub für uns Zeit zum Abschalten, raus aus den eigenen vier Wänden, den Horizont erweitern, Neues entdecken. Urlaub ist deshalb aber auch ein wunder Punkt für uns. Meine Frau und ich sind damals – vor Amelies Geburt – sehr viel gereist. Das Reisen in ferne Länder, das Erleben und Eintauchen in andere Kulturen war für uns immer sehr wichtig. Wir hatten uns vorgestellt, dies auch mit Kind machen zu können. Letztlich ist dieser Traum geplatzt. Jetzt geht es für uns primär darum, ein paar Tage durchatmen und Kraft schöpfen zu können – was allerdings bis vor kurzem nur sehr schwer zu realisieren war.
Ein Urlaub mit Amelie ist nun mal nicht entspannend, da unglaublich viel vorbereitet und geklärt werden muss: gibt es dort in der Unterkunft ein Pflegebett, ist die Dusche ebenerdig für den mitzunehmenden Duschstuhl. An Zeit zu zweit am Urlaubsort ist kaum zu denken. Ein Urlaub ohne Amelie ist aber auch nicht entspannend, da die Pflege über einen Zeitraum von mehreren Tagen nur schwer zu organisieren ist: wer kann nachts bei uns schlafen, klappen die Übergaben, haben wir auch nichts vergesse, ist vielleicht doch eine Kurzzeitpflege in irgendeiner Einrichtung sinnvoll.
Wir haben vieles ausprobiert und dabei leider weniger gute Erfahrungen gemacht – bis wir den Kupferhof in Hamburg kennenlernten.
Wenn Ihr als Familie gemeinsam Urlaub macht, wie plant Ihr?
Wir sind jetzt mittlerweile bereits drei mal als Familie im Kupferhof gewesen. Im Oktober steht der vierte Aufenthalt an. Der Kupferhof ist für uns bislang der einzige Ort, der den Begriff URLAUB auch wirklich verdient. Hier können wir wirklich entspannen. Der Kupferhof bietet uns als Familie, aber auch meiner Frau und mir als Paar die Möglichkeit, für ein paar Tage abschalten und mal wieder selbstbestimmt entscheiden zu können, was wir machen wollen. Hinzu kommt, dass meine Frau und ich vor vielen Jahren kurzzeitig in Hamburg gelebt und gearbeitet haben, wir uns somit gut in Hamburg auskennen und dort noch gute und langjährige Freunde haben.
Wo habt Ihr Euren schönsten Urlaub verlebt?
In der „Vor-Amelie-Zeit“ in Australien und Südafrika, in der „Amelie-Zeit“ im Kupferhof in Hamburg.
Welche Wünsche und Pläne habt Ihr für die Zukunft?
Wir wissen, dass die Belastungen nicht geringer werden: Amelie wird größer und schwerer; trotz unseres guten „Buddies“-Netzwerks denken wir permanent darüber nach, was wir zusätzlich brauchen und benötigen, damit es uns als Familie gut geht. Konkret überlegen wir, welche weiteren baulichen Veränderungen am und im Haus machbar sind. Ist es perspektivisch sinnvoller, Pflegekräfte bei uns wohnen lassen zu können? Oder ist doch die stationäre Unterbringung irgendwann in der Zukunft das richtige? Die Frage können wir jetzt noch nicht beantworten; wir wissen aber, dass es sinnvoll ist, sich frühzeitig immer wieder darüber auszutauschen, Sorgen, Ängste und Wünsche zu teilen. Aktuell können wir es uns jedenfalls nicht vorstellen, dass Amelie irgendwann woanders als hier bei uns wohnt.
Letztlich zahlt alles, was wir tun, auf ein Ziel ein: uns als Familie zu stärken. Das bedeutet für uns konkret, dass wir uns um uns kümmern; dass jeder Zeit und Freiräume für sich selbst hat, wir uns aber auch als Paar und als Familie gemeinsam erleben. Wir wissen mittlerweile, dass das ein enormer Spagat ist – trauen uns aber zu, den hinzubekommen. Das ist unser Wunsch.
Sie haben Interesse, Ihre Geschichte mit uns zu teilen? Dann freuen wir uns auf Ihre Kontaktaufnahme unter info@philip-julius.de.

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