Geschwister Kinder

Expertin Kerstin von der Hude – das ganze Interview

Wie lebt man weiter, wenn das eigene Kind stirbt? Ein Gespräch mit Palliativberaterin Kerstin von der Hude über Schock und Trauer, Krankenhausstress und Unterstützungsmöglichkeiten und darüber, warum Eltern oft sich selbst die besten Lehrmeister sein können.

„Die Trauer beginnt nicht mit dem Tod des Kindes, sondern mit der Diagnose“

Kerstin von der Hude

Kerstin von der Hude

Psychosoziale Elternberatung / Palliativversorgung | Charité Berlin


Kerstin von der Hude arbeitet in der Psychosozialen Elternberatung in der Neonatologie der Charité in Berlin. Mit vier anderen Kolleginnen begleitet sie dort Familien, deren Kinder nach der Geburt intensivmedizinisch versorgt werden müssen. Ihr Schwerpunkt sind Palliativberatung und Trauerbegleitung.           

Philip Julius e.V.: Liebe Kerstin, kannst Du den Begriff „palliativ“ noch einmal kurz erklären?

Kerstin von der Hude: Palliativ bedeutet, dass ein Mensch eine Erkrankung hat, an der er irgendwann versterben wird.

Wir starten bei dem Moment der Diagnose. Wie erleben Eltern – typischerweise, wenn es das gibt – den Moment, in dem Sie von der schweren oder seltenen Erkrankung ihres Kindes erfahren? In Deinem Umfeld ist das ja oft während der Schwangerschaft oder kurz nach der Geburt. Was passiert dann? Auf welche Eltern triffst du?          

Eltern, die erfahren, dass ihr Kind eine Erkrankung, eine schwerwiegende Diagnose hat, reagieren sehr unterschiedlich. So wie alle Menschen auch unterschiedlich sind. Und auch der Zeitpunkt, zu dem die Diagnose gestellt wird, ist ein sehr unterschiedlicher. Es gibt viele Erkrankungen, die man schon vor der Geburt in der Pränataldiagnostik, also in der Schwangerschaft in den Untersuchungen erkennen kann. Es gibt aber auch Diagnosen, von denen die Eltern im Vorfeld gar nichts wissen und die dann gestellt werden, wenn das Kind geboren wird. Eine Diagnose kann auch sein, dass das Kind zu früh auf die Welt kommt. Aber das, was in der Regel alle Eltern erst mal umtreibt, ist ein großer Schreck und eine große Trauer darum, dass alles anders sein wird, als sie sich das zu dem Zeitpunkt, als sie schwanger geworden sind, gewünscht und vorgestellt haben. 

Gerade wenn die Diagnose zum Zeitpunkt der Geburt oder kurz danach stattfindet – eigentlich ja ein freudiger Anlass – kann ich mir vorstellen, dass es da auch zu einem sehr komplexen Gefühlsmix kommt: einerseits die Freude darüber, dass das Kind da ist und andererseits aber auch ein großer Schock. Wie begleitest du Eltern mit diesem Gefühlsmix?   

Es ist tatsächlich ein großer Gefühlsmix, wenn Eltern um die Geburt herum von der Erkrankung ihres Kindes erfahren. Meine Erfahrung ist, das, was Eltern in dieser Situation von allen anderen Eltern unterscheidet, dass sie ihr Kind erst    einmal kennenlernen müssen. Kinder, die zu einem späteren Zeitpunkt eine Diagnose bekommen und erkranken, haben schon einen Platz in der Familie und die Eltern sind schon ganz vertraut mit ihnen. Aber Eltern, deren Kind nach der Geburt auf eine Intensivstation verlegt werden muss, müssen ja erst einmal selbst in ihre Rolle wachsen und müssen auch ihr Kind kennenlernen. Und sie müssen Entscheidungen treffen. Sie müssen auch Bindung zu diesem Kind aufbauen. Das alleine ist schon eine große Ambivalenz und eine große Herausforderung: sich unter diesen erschwerten Bedingungen überhaupt ihrem Kind anzunähern.      

Was sind denn die häufigsten Fragen oder Sorgen, die Eltern nach einer solchen Diagnose haben? Vor allem, wenn es um lebensverkürzende Erkrankungen und Behinderungen geht…

Wenn Eltern erfahren, dass ihr Kind eine schwere und möglicherweise lebensverkürzende Erkrankung hat, dann haben sie ganz häufig erst einmal Fragen danach: Was bedeutet das denn für mein Kind? Das Krankheitsverständnis muss erst wachsen. Sie hören eine Diagnose, aber häufig können sie damit erst einmal gar nicht so viel anfangen. Oder sie bekommen eine Erklärung, aber sie sind so erschrocken darüber, dass sie sich das erst gar nicht merken können. Sie sind völlig überfordert damit. Das heißt, auch das ist ein Prozess, dass die Eltern Raum brauchen, zeitlich, örtlich und Menschen an ihrer Seite, die sich die Zeit nehmen und das Verständnis dafür haben, dass die Eltern erst einmal reinwachsen müssen in diese Situation, um zu verstehen: Welche Fragen müssen wir eigentlich stellen? Was bedeutet das für unser Kind und was bedeutet es auch – und das ist auch eine wichtige Frage – für die Familie? Was bedeutet das eigentlich für uns, für unser Leben, für unsere möglicherweise anderen Kinder? Was bedeutet das für unsere wirtschaftliche Situation? Was ist mit der Berufstätigkeit? All die Dinge wirbeln erst mal durcheinander und die Eltern wissen gar nicht, was sie eigentlich zuerst denken sollen.  

Medizinisches Personal hantiert ja oft auch mit Fachbegriffen. Wie können Eltern da Unterstützung erfahren? Um die Diagnose oder die Erkrankung, die Behinderung ihres Kindes überhaupt zu verstehen?    

Ich glaube, das ist ein Muss: Die Eltern brauchen Unterstützung auf vielen unterschiedlichen Ebenen. Sie brauchen medizinisches Personal, ärztliches Personal, die ihnen die Erkrankung erklären. Sie brauchen die Pflegenden, die ihnen helfen und sie ermutigen, sich an ihr Kind ran zu wagen, ihrem Kind zu begegnen, ihr Kind zu versorgen, Elterndinge zu tun. Und sie brauchen Menschen, die auf der psychologischen und psychosozialen Ebene an ihrer Seite sind. Weil Eltern viele Fragen und Ängste und Sorgen haben, von denen sie aber gar nicht so genau wissen, wo sie die eigentlich im Krankenhausbetrieb platzieren sollen. Dafür braucht es Menschen, die eben auch im nicht-medizinischen Bereich unterwegs sind und den Eltern da die Möglichkeit geben, miteinander ins Gespräch zu kommen.  

Um daran anzuschließen: Wie können Eltern im Krankenhaus solche Möglichkeiten finden, mit Unsicherheit, Ängsten, finanziellen Druck umzugehen und Hilfe zu finden?           

Damit Eltern mit all diesen Fragen und diesen unglaublich beängstigenden und anstrengenden Situationen umgehen können, brauchen sie Menschen und Personal, die aktiv auf sie zugehen. Die Eltern wissen ja nicht, was es für Strukturen im Krankenhaus gibt. Das heißt, es ist wichtig, dass das psychosoziale Netzwerk oder ein Teil dieses Netzwerkes auf die Eltern aktiv zugeht, Kontakt anbietet und dann gemeinsam überlegt: Was brauchten sie denn jetzt eigentlich? Manchmal ist es eben eine sehr konkrete Information darüber, ob der Vater sich krankschreiben lassen kann, weil er das vielleicht von alleine nicht weiß oder weil er gar nicht darauf kommt. Oder dass die Mutter eben nicht weiß, dass sich ihr Mutterschutz verlängert, wenn sie ein frühgeborenes Kind zur Welt bringt, das aber ein entscheidender Faktor für die wirtschaftliche Situation der Familie ist. Auf solche Dinge kommen die Eltern an der Stelle häufig nicht alleine oder wissen gar nicht, an wen sie sich wenden sollen. Und da ist es gut, wenn das Personal aktiv die Eltern ermutigt, einlädt und Kontakt zu ihnen aufnimmt.

Kannst Du ein bisschen aus deiner Arbeit erzählen? Wie sieht Dein Alltag aus? Wie kommt der Kontakt zustande? Welche Schritte geht ihr dann mit den Eltern?

Bei uns in der Klinik ist es so, dass wir in der psychosozialen Elternberatung vor allen Dingen proaktiv auf die Familien zugehen, deren Kinder nach der Geburt bei uns versorgt werden und ihnen Kontakt und Beratung anbieten. Die Eltern können sich dann überlegen, ob sie das gerne möchten oder nicht. Das ist häufig eine Herausforderung für die Familien, weil sie so vielen Menschen in der Klinik begegnen. Uns ist es wichtig, dass es erst einmal ein niederschwelliger Zugang ist und dass man sehr konkret sagt, wofür wir stehen und was wir ihnen anbieten können. Und dass eben kein Druck entsteht und es eher eine Einladung ist. Familien, die noch schwanger sind, aber auch einen hohen Beratungsbedarf haben, werden oft von ambulanten Praxen oder von unserer Schwangerenberatung, die wir bei uns in der Klinik haben, ermutigt, sich aktiv bei uns zu melden. Was die Eltern dann auch tun. Und so kommt dann der Kontakt zustande, dass wir uns mit diesen Familien verabreden. Ich glaube, das, was uns von allen anderen Personen in der Klinik unterscheidet, ist, dass wir versuchen, uns mit den Eltern so zu verabreden, dass sie auch die Möglichkeit haben, sich auf diese Gespräche vorzubereiten, da sie sozusagen auf Augenhöhe geführt werden, und diese Gespräche eben auch selbst mit steuern können.         

Der Klinikalltag ist oft von Zeitdruck, Schichtwechsel, wechselnden Ansprechpartnern geprägt und dann kann auf Patienten- oder Angehörigenseite auch einmal das Gefühl entstehen: Ich werde hier nicht mitbedacht, ich werde vergessen, übergangen und der nächste Schritt wird nicht richtig anmoderiert. Was rätst du Eltern, Angehörigen, Familien, wenn so ein Gefühl entsteht?  

Wenn Eltern bei uns in der Klinik sind, weil ihre Kinder dort versorgt werden, dann sind sie in einer ganz anderen Lebenssituation als im Privatleben. Weil sie nämlich komplett abhängig sind vom Personal in der Klinik, weil dieses dafür zuständig ist, ihre Kinder zu behandeln. Das heißt, die Eltern sind sehr angewiesen darauf und versuchen, möglichst gute Stimmung zu machen, nehmen vieles hin und wehren sich wenig. Wenn sie vielleicht das Gefühl haben, sie werden übergangen oder nicht ausreichend informiert, ist das für Eltern sehr anstrengend, weil sie immer versuchen, sich im Sinne ihres Kindes zurechtzufinden. Elternberatung oder auch andere psychosoziale Dienste können da den Eltern die Möglichkeit bieten, sich zu entlasten. Die Eltern wollen nicht unbedingt immer Konflikte austragen oder Dinge benennen. Aber es tut Eltern häufig gut, in irgendeinem geschützten Raum Dinge zu erzählen und sie zu teilen. Und manchmal entstehen daraus dann Situationen, dass nach der Entlassung der Familie die Elternberatung oder andere soziale Dienste die Erlaubnis bekommen, das mit dem Team nachzubesprechen. Manchmal entstehen auch direkte Konfliktgespräche daraus, um das aus dem Weg zu räumen. Aber das, was die Eltern brauchen, sind einfach Menschen, die sich das anhören, ohne zu werten. Und der Vorteil der Elternberatung an dieser Stelle ist eben auch, dass wir nicht in die Versorgung der Kinder involviert sind. Damit sind wir unabhängig davon, haben mit den Kindern erstmal nichts zu tun und stehen ausschließlich den Eltern zur Verfügung. Und das ist ein sehr entlastender Aspekt für die Familien.    

Wenn es darum geht, den Schock einer Diagnose zu verarbeiten und damit dann leben zu müssen, vielleicht auch über das Leben des Kindes hinaus – gibt es Ratschläge, Empfehlungen, wie Eltern auch außerhalb der Klinik Entlastung und Ansprechpartner finden können?    

Wenn Eltern eine Diagnose bekommen, die sehr schwer oder auch möglicherweise lebensverkürzend ist, dann ist das immer erst einmal ein Schock. Und es geht im Verlauf sicherlich vor allen Dingen darum, diese Diagnose und das, was daraus folgt, einzuordnen. Und daraus wiederum zu gestalten, wie die nächsten Schritte aussehen könnten, wie sich das Leben gestalten könnte. Das sind oftmals sehr kleine Schritte, weil man eben ja gar nicht genau weiß, in welche Richtung es geht, wie lange es dauern wird. Nach der Diagnose kommen Behandlungen und es hängt immer auch vom Kind ab, wie es sich entwickelt. Unsere Erfahrung in der Elternberatung ist vor allem, dass es ein Prozess ist, möglicherweise ein lebenslanger. Und es kann gut sein, dass Eltern eine Diagnose seit vier, fünf, sechs, Wochen wissen und es trotzdem immer noch nicht wirklich wahrhaben wollen, immer noch hoffen, dass es irgendwie vorbeigeht. Das heißt, jeder hat seinen individuellen Umgang damit. Und es ist so wichtig, dass Eltern vor allen Dingen wissen, wohin sie sich wenden können, wenn sie Unterstützung wollen. Es gibt auch Eltern, die sagen: Wir wollen da erst mal alleine durch. Aber sie müssen Zugang zu Hilfe und Netzwerken haben, um sich dann möglichst auch selbst dahin wenden zu können. Wenn bei uns Eltern entlassen werden, versuchen wir, für die Familie interprofessionell und interdisziplinär auch ein ambulantes Netzwerk zu stricken. Dazu gehört unter anderem die sozialmedizinische Nachsorge, die eine Krankenkassenleistung ist und ein Netzwerk weiterstrickt für die Familien, damit sie eben nicht, wenn sie im Krankenhaus möglicherweise sehr gut und individuell betreut wurden, nach Hause kommen und dann plötzlich alleine dastehen. Es muss einen Übergang geben, weil das Ziel immer ist, dass die Eltern irgendwann selbstbestimmt gestalten können. Aber jeder Übergang, jeder Wechsel von Institutionen erhöht den Stress und die Unsicherheit. Und dafür braucht es Menschen an der Seite, die sie begleiten. Das ist auch eine Aufgabe der Klinik, diesen Übergang in die ambulante Situation mit Professionellen adäquat vorzubereiten. 

Du hast es ja in Deiner Beratung mit Situationen zu tun, in denen gerade erst Leben entstanden ist – und dann kommt eventuell die Nachricht, dass dieses Leben bald wieder vorbei ist. Das ist natürlich total furchtbar. Auch der Gedanke: Unser Kind muss palliativmedizinisch versorgt werden. Gibt es aus Deiner Perspektive auch Chancen in einer solchen Versorgung? Wie erklärst Du Eltern, was Palliativmedizin ist und welche Ressourcen darin auch liegen können?

Wenn Eltern sich an unsere Klinik wenden, weil sie erfahren haben, dass ihr ungeborenes Kind eine schwere und lebenslimitierende Erkrankung hat, kommen sie häufig eher zögerlich zu uns. Gerade große Kliniken der Maximalversorgung stehen ja vor allen Dingen dafür, Leben zu retten. Um jeden Preis. Und häufig geistert auch eher dieser Gedanke durch die Gegend: Dem Kind ist nicht mehr zu helfen. Es gibt ja auch Worte wie „austherapiert“ oder „Wir stehen mit dem Rücken zur Wand“. Wir verwenden diese Worte nicht, aber das wissen die Eltern im Vorfeld ja nicht.

Wenn die Kinder schon geboren sind und bei uns auf der Station liegen und klar ist, das Kind ist nicht zu heilen und wird an dieser Erkrankung versterben, dann ist es wichtig, dass die Familien wissen, es geht nicht darum, nichts mehr zu tun, sondern es geht darum, das Therapieziel zu ändern. Das ist ein wichtiger Aspekt für die Familien. Therapiezieländerung bedeutet, dass man weg geht von „Wir können Ihr Kind  heilen und gesund machen“ hin zu: „Das Leben, die Lebenszeit, die Ihr Kind noch hat ist kostbar – dafür wollen wir eine hohe Lebensqualität.“ Das ist ganz wichtig für die Familien, dass sie wissen, palliative Versorgung heißt, das Kind adäquat und individuell auf seine Bedürfnisse zugeschnitten zu begleiten und zu versorgen.    

Oft geht es ja auch um Schmerzen. Das ist ja auch ein Riesenfaktor, wenn ich weiß, dass mein Kind furchtbare Schmerzen hat, aber ich sie ihm vielleicht ein wenig nehmen kann…

Wie eben gesagt, bedeutet Palliativversorgung vor allem Lebensqualität erhalten. Ein wichtiger Bestandteil ist die Schmerz- und Symptomkontrolle. Und es ist für die Eltern existenziell, dass sie wissen, dass ihr Kind nicht leiden wird, keine Angst, keine Schmerzen, keinen Hunger und keinen Durst haben wird. Diese basalen Bedürfnisse des Kindes stehen in der Palliativversorgung im Vordergrund.        

Hoffnung ist manchmal ein schwieriger Begriff. Aber was kann Eltern, die trauern – entweder um das Leben, von dem sie einmal dachten, dass sie es führen würden, oder tatsächlich dann nach dem Tod des Kindes – Trost spenden? Welche Botschaft kann Eltern in so einer Zeit vielleicht helfen oder ein bisschen Erleichterung verschaffen?      

Die Trauer von Eltern beginnt nicht mit dem Tod des Kindes, sondern mit der Diagnose. Weil dort die Eltern anfangen zu betrauern, was anders sein wird. Wenn ich etwas gelernt habe – und ich glaube, das gilt für uns alle – dann, dass die Eltern immer unsere Lehrmeisterinnen und Lehrmeister waren. Wir können nicht trösten, denn wenn Kinder verstorben sind, gibt es einfach erst einmal keinen Trost. Es geht darum, den Eltern verständlich zu machen und sie zu ermutigen, diesen Trauerweg zu gehen. Weil es, auch wenn das Kind ganz klein war, nicht heißt, dass die Trauer ganz klein ist, sondern die Trauer ist da, egal wann das Kind gestorben ist. Aber Trauer wandelt sich im Laufe der Zeit. Trauer bleibt nicht immer gleich, sie ist etwas sehr Dynamisches. Aber sie wird immer bleiben. Denn Trauer ist die Kehrseite der Liebe, und wenn ich etwas verliere, was ich geliebt habe, dann werde ich immer trauern. Trauer wandelt sich. Aber die Liebe wandelt sich nicht. Die Liebe hat Bestand. Dieses Kind, das so geliebt wurde – diese Liebe bleibt. Und das ist vielleicht etwas, was wir den Eltern, deren Kind gestorben ist, versuchen, irgendwie mit auf den Weg zu geben.    

Was hat sich im Laufe der letzten Jahre, Jahrzehnte im Umgang mit betroffenen Eltern geändert?

Unsere Elternberatung ist ja die erste, die es überhaupt gab in der Neonatologie, sie ist jetzt 30 Jahre alt. Als wir damit angefangen haben, war eigentlich die Motivation, eine Brücke zu sein zwischen Mutter und Kind. Denn zu diesem Zeitpunkt gab es in den USA Mutter-Kind-Zentren, aber nicht in Deutschland. Das heißt, die Mutter war örtlich immer woanders als das Kind. Das zu ändern, war die Motivation, warum wir so etwas überhaupt aufgebaut haben. Und es ist schon so, dass die Eltern heute ein fester Bestandteil auf der Station sind. Man weiß einfach, dass die Gehirnentwicklung und die Stabilität der Kinder eine viel bessere ist, wenn die Eltern möglichst viel da sind. Vor 30 Jahren oder 40 Jahren, da waren die Eltern halt mal auf Besuch da, aber sie hatten nicht so eine tragende Rolle wie heute. Das ist vielleicht ein Unterschied. Und bei den verstorbenen Kindern ist es so, dass sie früher nicht einmal beerdigt worden sind. Es gibt viele Eltern, deren Kinder vor 40 Jahren gestorben sind, die wissen nicht mal, wo ihr Kind begraben ist, wenn es ganz klein verstorben ist.        

Was habt ihr aus diesen Jahrzehnten eurer Arbeit im konkreten Umgang mit den Eltern gelernt?

An der Charité begleiten wir wie gesagt in der Elternberatung seit 30 Jahren betroffene Familien. Und tatsächlich ist es so, dass unser Erfahrungsschatz das ist, was uns immer getragen hat. Weniger die Wissenschaft, tatsächlich, sondern die Eltern haben uns immer gezeigt, was sie brauchen, und wir haben versucht, darauf zu reagieren. Und das, was für die Eltern einfach ganz wichtig ist und was wir als gesamtes Team in den letzten Jahrzehnten gelernt haben – Pflegende, ärztliche Kolleg*innen, wir alle – ist, dass Eltern ein unbedingter Bestandteil im Team sind. Weil es ohne die Eltern den Kindern nicht so gut gehen wird. Und weil man einfach weiß, wissenschaftlich ist das inzwischen auch bewiesen, dass die Kinder sich viel besser entwickeln, dass die Gehirnentwicklung viel besser voranschreitet, wenn die Eltern da sind und es eben nicht nur um medizinische und pflegerische Versorgung geht. Die Eltern mehr mit in den Fokus zu bringen und ihnen eine tragende Rolle zu geben, ist glaube ich ein wichtiger Punkt, den die Elternberatung immer verfolgt hat.

Es ist ja oft eine große Ohnmacht. Und wenn man als Eltern das Gefühl hat, man ist ein aktiver Teil in diesem Prozess, man kann auch etwas tun, beitragen, man kann dem Kind nicht alles abnehmen, aber das Wohlergehen des Kindes absolut steigern, ist das ja auch total wichtig…

Was mir an dieser Stelle auch noch einmal wirklich wichtig ist: Die Pflege macht ja einen ganz großen Teil aus, denn die Pflegenden sind diejenigen, die die Eltern immer mehr mit einbeziehen in die Versorgung des Kindes. Hier kann, glaube ich, die Elternberatung oder überhaupt psychosoziale Beratung ergänzen, denn sie schaffen eben nicht diese Abhängigkeiten, weil die Elternberatung nichts mit den Kindern zu tun hat. Sie sind die Menschen, bei denen Eltern dann eben auch mal Dampf ablassen können, sich entlasten können. Und das Spannende ist, dass wir ein Besprechungsformat in der Klinik haben, bei dem einmal in der Woche alle Berufsgruppen zusammensitzen. Und ganz häufig ist es so, dass die Wahrnehmung der Familie, die Wahrnehmung des Verhaltens der Familie sehr unterschiedlich ist, weil die Familien und die Eltern sich gegenüber der Pflege oder den ärztlichen Kolleg*innen einfach ganz anders geben und zeigen, als sie das zum Beispiel bei uns in einer psychosozialen Beratung machen. Und das macht es so wichtig, dass die Eltern wirklich die Möglichkeiten haben, an unterschiedlichen Stellen unterschiedliche Dinge mitgestalten und besprechen zu können.       

Gibt es noch einen anderen Aspekt, über den wir nicht gesprochen haben und den du gern noch ergänzen würdest?

Ich glaube, ein ganz wichtiger Aspekt, der für die psychosoziale und psychologische Beratung gilt, ist, dass man immer auf eine bestimmte Haltung achten sollte. Niemand weiß besser, was für einen gut ist, als man selbst. Das heißt, unsere Arbeit in der Beratung verstehen wir so, dass wir gemeinsam in die gleiche Richtung gucken mit den Eltern, dass wir nicht wissen, was der richtige Weg ist, sondern dass wir uns zur Verfügung stellen und anbieten: Lassen Sie uns gemeinsam schauen, wie kann der Weg sein? Denn der Weg kann sehr lang sein, er kann sehr uneben sein, es kann immer wieder Rückschritte geben. Und es ist so wichtig für die Eltern, Menschen zu haben, die eben nicht sagen: Ich weiß, was jetzt gut ist für dich oder ich würde das jetzt so und so machen! Sondern eher selbst gestalten zu können, um herauszufinden, was tut mir eigentlich gut. Das kann für die Mutter etwas ganz anderes sein als für den Vater. Und das kann eben auch durchaus zu Konflikten führen. Da auch Raum dafür zu haben, den Eltern Möglichkeiten zu geben, eigene und gemeinsame Wege zu finden – das ist ein sehr wichtiger Aspekt, der auch in der Elternberatung viel Raum einnimmt.  

Noch eine ganz konkrete Frage zum Abschluss: Du arbeitest an der Charité in Berlin. An wen können sich denn Eltern wenden, die beispielsweise in Baden-Württemberg auf dem Land wohnen?

Eltern,deren Kinder nach der Geburt intensiv medizinisch betreut werden müssen, werden in Deutschland in der Regel immer in große sogenannte Perinatalzentren verlegt. Das sind         eigentlich Mutter-Kind-Zentren, die in unterschiedliche Level eingeteilt werden. Und es ist inzwischen so in Deutschland, dass es in jedem Perinatalzentrum Level eins oder zwei, in dem kranke, neugeborene oder frühgeborene Kinder versorgt werden, immer eine psychosoziale Elternberatung geben muss. Das ist wichtig zu wissen – dass dort Menschen arbeiten, die sich eben nicht um den medizinischen oder im pflegerischen Bereich kümmern, sondern den Eltern auch im psychosozialen Bereich Versorgung anbieten.    
 

Liebe Kerstin, ganz herzlichen Dank für diesen wertvollen Einblick in Deine Arbeit!

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