„Das Beste daraus machen“
Melanie Hubermann
Systemische Familientherapeutin
Melanie Hubermann ist systemische Familientherapeutin und leitet ein eigenes Therapiezentrum mit Schwerpunkt Elternberatung in Berlin. Ihr besonderes Anliegen: Familien mit großen Herausforderungen einen wertschätzenden, sicheren Raum, Stärkung und neue Perspektiven zu geben.
Philip Julius e.V.: Eine Diagnose, entweder vor oder auch nach der Geburt, ist ja oft ein Schock. Was löst das bei den Familien aus?
Melanie Hubermann: Wenn Familien die Diagnose bekommen, dass ihr Kind krank ist oder einen Gendefekt hat, also voraussichtlich eine Behinderung mit auf die Welt bringt oder auch es erst direkt nach der Geburt erfahren, muss man sich erst mal klar machen, dass niemand darauf vorbereitet ist. Jeder, der sich mit seiner Schwangerschaft auseinandersetzt, weiß zwar irgendwie im Hinterkopf, es könnte was schief gehen, aber eigentlich ist diese Vision von Familie immer verbunden mit einem gesunden Kind. Die Enttäuschung dieser wunderbaren Vorstellung von Familie ist tatsächlich immer ein harter Schlag für die Familien, für die Mutter, für den Vater. Jeder nimmt es auch unterschiedlich. Man glaubt vielleicht im ersten Moment, dass es vor allen Dingen die Mutter ist, die es sehr schwernimmt. Ich habe auch schon Väter erlebt, die große Probleme hatten, sich erstmal überhaupt von diesem Bild, das sie sich über viele, viele Monate kreiert haben, verabschieden zu müssen. Zu verstehen, dass mich ein völlig anderes Leben, als wir es ursprünglich geplant haben, erwartet. Oft kommt dann so eine Phase von: Na ja, vielleicht kriegen wir es hin und es geht vorbei.
„Akzeptanz ist genau der Punkt, den Familien brauchen,
um gut und gesund weitergehen zu können.“
Dieser Weg zur Akzeptanz ist oft sehr lang und sehr anstrengend. Auch weil natürlich jeder sein Tempo an dieser Stelle braucht. Ich glaube aber, Akzeptanz ist genau der Punkt, den Familien brauchen, um gut und gesund weitergehen zu können. Der eine oder andere wird dann wütend. Oder Schuldgefühle kommen hoch im Sinne von: Haben wir was falsch gemacht während der Schwangerschaft? Haben wir nicht gut genug aufeinander aufgepasst? Waren wir leichtfertig, hätten wir uns besser informieren müssen? Hätten wir es von Anfang an gar nicht tun sollen? Oft kommen solche Fragen, die eigentlich Ausdruck der Ohnmacht vor dieser unvorbereiteten Situation sind. Da gilt es wirklich aufeinander aufzupassen, weil das auch der Moment sein kann, in dem Elternpaare sich schnell aus den Augen verlieren, weil vielleicht der eine sich komplett zurückzieht, der andere aber sofort ins Handeln kommen will und reagieren möchte. Und da braucht es wirklich, ich sehe das immer wieder, einen guten Rahmen, durch denn man im Gespräch miteinander bleiben kann, um zu schauen, wie gehen wir jetzt erstmal mit dieser Information um? Wo packen wir die hin und wie können wir miteinander damit umgehen? Bevor man in einen Aktionismus gerät.
Du hast jetzt gerade schon Angst und Wut angesprochen. Welche emotionalen Herausforderungen sind mit so einer Diagnose verbunden? Welche Dynamiken können vielleicht auch in schon bestehenden Familienkonstellationen mit Geschwisterkindern entstehen?
Die emotionalen Reaktionen sind facettenreich und ich würde auch sagen, wir müssen auf unterschiedliche Ebenen sehen. Diese Ohnmacht, die wir spüren vor einer Situation, die wir nicht kennen, führt oft dazu, dass wir vor allen Dingen erstmal sehr wütend werden könnten, um aktiv zu werden. Das gibt uns Kraft, irgendwie wieder in die Energie zu kommen, in der Hoffnung, vielleicht eine Situation wieder kontrollieren zu können, in der wir das Gefühl haben, wir leiden unter kompletten Kontrollverlust. Dann gibt es natürlich das große Gefühl Angst. Angst davor: Was erwartet mich? Überlebt dieses Kind? Schaffe ich das? Woher soll ich die Kraft nehmen? Wie kriegen wir das als Familie hin? Wie kriegen wir das als Paar hin? Und dann natürlich auch immer wieder diesen Blick auf Geschwisterkinder zu haben. Ich glaube, das ist die größte Herausforderung: gesunde Kinder mit im Blick zu haben. Weil Eltern schnell sehen: Na ja, es läuft, die sind gesund, wir müssen uns fokussieren auf das kranke Kind, denn es kann ohne uns nicht essen. Aber dann wieder zu sehen, dass auch diese Geschwisterkinder sehr schnell Verantwortung übernehmen und funktionieren wollen, um den Eltern keine weitere Belastung sein zu wollen.
„Es ist keine Bürde, es ist ein Geschenk.“
Das heißt, wir haben hier wahnsinnig viele Dynamiken. Am ehesten schauen wir auf das kranke Kind, auf das betroffene Kind. Dann schauen wir im besten Fall auf die Geschwisterkinder und dann gucken wir lange auf gar nichts. Irgendwann schauen wir dann vielleicht einmal darauf, ob wir das als Paar überhaupt schaffen oder wie wir es schaffen könnten. Und auch da gibt es so viele Dynamiken, weil wir natürlich auch auf uns selbst gucken. Wenn wir uns mit Angst beschäftigen und uns vielleicht auch noch die Schuld geben und wütend sind mit der Welt und sagen, das ist nicht, was wir gewollt haben, dann verlieren wir oft uns selbst aus dem Auge. Zu schauen, wofür kann es gut sein, dass es ausgerechnet uns oder mir passiert, hin zu: meinen Partner oder meine Partnerin weiter im Blick zu haben. Nicht nur als Liebespaar, sondern auch als Team zu sagen: Hey, wir stecken hier beide drin, wie kriegen wir das hin, dass wir gut da durchkommen und trotzdem auch glückliche Momente im Leben haben, das als Geschenk wahrnehmen können? Es klingt jetzt so wahnsinnig leicht, wenn man sagt, wir haben da eine Bürde ins Leben bekommen und dann den Weg zu schaffen, zu sagen: Es ist keine Bürde, es ist ein Geschenk. Ich bin immer wieder sehr beeindruckt, wie Eltern das schaffen, zu sagen: Wir haben nicht ohne Grund dieses Kind geschenkt bekommen als Familie und wir nehmen es als Geschenk wahr und machen das Beste draus.
Du betonst in deiner Arbeit immer wieder die Wichtigkeit, Ressourcen auch in dem Familiensystem, in den familiären Konstellationen zu erkennen und zu entdecken. An welche Ressourcen denkst Du da?
Wir sind uns, wenn wir auf uns selbst gucken, oft nicht bewusst, welche Ressourcen und Kompetenzen in uns ruhen. In Ausnahmesituationen, und das ist eine Ausnahmesituation, ploppt das plötzlich auf und wir funktionieren. Trotzdem gönnen wir uns nicht, in diesem Moment zu schauen: Hey, woher nehme ich die Kraft? Was kann ich besonders gut? Worin bin ich stark? Darauf kommt es aber an, es sich bewusst zu machen, weil ich dann wie auf ein Instrument darauf zurückgreifen kann. Und dann gilt es, als Paar herauszukriegen: Welche Ressourcen hast du, welche habe ich und wo ergänzen wir uns? Wozu Paare neigen, ist: Du machst das besser als ich. Du machst es schlechter als ich. Wieso machst du es nicht genauso gut wie ich? Das macht in der Beratung ehrlichgesagt am meisten Spaß. Zu sagen, komm, wir wechseln den Blick und schauen: Wie cool ist das, dass der eine mehr Geduld hat, der andere mit der Bürokratie besser klarkommt, der Partner vielleicht tatsächlich auch einen anderen Zugang hat, dieses Schicksal anzunehmen, sodass ich davon lernen kann? Woher nimmt er die Gelassenheit, es als Geschenk zu nehmen, wenn ich selbst mich gerade so verzweifelt fühle? Das Vertrauen zueinander zu haben, zu sagen: Ich brauche dich, ich bin an meiner Grenze, da habe ich keine Ressourcen mehr, kannst du übernehmen? Also auch loslassen zu können, zu sagen: Ich brauche jetzt Unterstützung, ich schaff das nicht alleine. Das ist, was Familien über einen langen Zeitraum tragen kann. Also nicht nur zu sagen, was ich gut kann, sondern auch: Das kann ich nicht so gut und ich kann nicht mehr. Und dann zu sagen: Wer kann uns unterstützen? Lass uns gemeinsam dafür Lösungen zu finden. Und je klarer das ausgearbeitet ist, auf dem Tisch liegt, desto eher kann ich in Krisenmomenten, in denen es mir nicht gut geht, darauf zurückgreifen.
Du hast gesagt, es geht darum, nicht direkt in Aktionismus zu verfallen. Gleichzeitig kann es aber, wenn der große Schock da ist, total helfen, sich erst einmal Hilfe zu holen, um sich zu orientieren, wie es weitergeht. Kannst du vielleicht einen kurzen Fahrplan skizzieren, was Eltern machen können, wenn sie so eine Diagnose bekommen, an wen sie sich wenden können?
Wenn Eltern so eine Diagnose bekommen, macht es am meisten Sinn, sich natürlich erst einmal im Krankenhaus die ersten Informationen geben zu lassen. Das Krankenhaus ist sehr gut vernetzt und hat in der Regel die ersten drei, vier wichtigsten Telefonnummern parat. Dann die Krankenkasse zu kontaktieren: Wir haben hier folgende Diagnose bekommen, wir brauchen vielleicht für die nächsten sechs Wochen Notfallunterstützung. Und dann ist da der Kinderarzt oder die Kinderärztin, die die
Vertrauensperson für die Familie in den nächsten Jahren wird, die immer wieder das ganze Netzwerk zusammenbringt zu einem Zentrum und schaut, was der nächste Schritt sein kann. Sich also viel, viel Input holen, viel Informationen holen, um überhaupt eine Idee zu bekommen, was da auf mich zukommt. Was ich auch oft gehört habe von Eltern, gerade wenn die Kinder Frühchen sind: Sie berichten, dass sie im Krankenhaus, vor Ort, ins Gespräch gehen mit betroffenen Eltern. Schon so früh. Also selbst wenn man im ersten Schockzustand ist, miteinander zu reden, in den Austausch zu gehen, vielleicht in Kontakt zu bleiben, auch um immer wieder zu hören: Was macht ihr als nächstes? Was habt ihr an Informationen gehört? Solche Informationen immer wieder einsammeln – das wäre tatsächlich für mich der erste Fahrplan. Und vom Kinderarzt oder der Kinderärztin aus dann anzufangen, ein Netzwerk aufzubauen von: Wer kann mich beraten? Wer sind gute Therapeuten und Therapeutinnen? Wo gibt es Unterstützung? Und es gibt sehr viel freiwilliges Engagement. Wo kann ich mir eine Leih-Oma oder einen Leih-Opa mit dazuholen? Das geht sehr oft von den Kinderarztpraxen aus.
Wir haben eben schon einmal über die Ressourcen gesprochen. Was können Eltern tun, um gut im Gespräch zu bleiben, das Liebespaar, das stabile Elternpaar zu bleiben? Wie können Eltern auch in einer solchen Krise ihre Beziehung stärken?
Ich glaube, Paare haben immer ein Problem, zusammenzubleiben und ihre Beziehung zu stärken. Wenn wir Paare mit gesunden Kindern fragen würden, hätten sie die gleichen Herausforderungen. Den Unterschied sehe ich nur oft bei Familien mit behinderten Kindern: dass sie wirklich faktisch keine Zeit haben. Sie sind absolut überlastet. In diese Debatte zu gehen, da hätte ich als Therapeutin sofort verloren, denn es ist ja faktisch keine Zeit da. Aber mein Grundsatz an dieser Stelle ist: Damit Familie überleben kann, muss es den Eltern gut gehen und dafür muss ein Preis bezahlt werden. Denn wenn uns die Eltern wegbrechen, bricht die Familie auseinander. Dann haben wir komplett verloren. Das ist oft ganz schwer für Eltern anzunehmen, weil sie glauben, sie sind total unwichtig, weil ihr Kind so hilflos ist. Also gehe ich oft in Verhandlungen und schaue immer wieder in die Tagesstrukturen: Wo können wir uns fünf Minuten klauen, wo können wir eine halbe Stunde kriegen? Wo bleibt vielleicht eine Stunde mithilfe von anderen? Ganz, ganz, ganz wichtiges Thema: Wer kann uns helfen aus unserem Umfeld, damit wir auch mal eine halbe Stunde zusammen spazieren gehen können? Und dann geht es tatsächlich um ganz kleine Dinge, die man tun kann. Zusammen fünf Minuten ein Kaffee morgens trinken, bevor man sich den Kindern zuwendet, einen Pastaabend planen, auf dem Balkon zu zweit mit einem Glas Wein, um miteinander zu sein. Also keine Netflix-Serie schauen, sondern wir beide machen uns einen romantischen Abend, eine Stunde, und reden mal nur über schöne Dinge – wie wir uns kennengelernt haben, über unsere Träume, nur Positives – und kehren dann in unseren Alltag zurück. Es hilft unglaublich, diese kleinen Rituale einzuführen. Darauf würde ich immer wieder bestehen. Ich werbe dafür, es zu ritualisieren. Jeden Donnerstagabend italienischer Abend, jeden Sonntag fünf Minuten zusammen den Kaffee trinken, damit es nicht durchrutscht bei diesem Wahnsinnsalltag, den diese Familien stemmen müssen.
Einerseits können sich natürlich Elternpaare gegenseitig unterstützen und auch einmal auffangen, aber was ist denn, wenn beide zusammen sagen: Wir können nicht mehr, wir sind so erschöpft über die Jahre, sind so ausgebrannt. Oder vielleicht gibt es wieder eine neue schlechte Nachricht. Wie kann man diese Krisen oder diese immer wiederkehrenden krisenhaften Momente zusammen überwinden? Was können Eltern dann tun?
Das Überwinden von Krisenmomenten, dieses Gefühls, in einer Dauerkrise zu leben, ich glaube, das ist der Punkt, an dem gerade mithilfe von Beratung und Therapie vielleicht auch nochmal ein neuer Blick geschaffen werden kann, nämlich eine andere Haltung zum eigenen Leben zu bekommen. Es nicht als Krisenmodus wahrzunehmen, sondern zu sagen: Das ist mein Leben. Ich erlebe das bei vielen Familien, die das geschafft haben. Und trotzdem kommen sie natürlich an dem Punkt, an dem sie sagen: Puh, ich kann nicht mehr, das ist mir alles zu viel, ich bin körperlich am Ende. Da gibt es Angebote von Mutter-Kind-Kuren oder auch Wochenenden, die speziell für diese Familien angeboten werden. Wo ich immer wieder sehe, dass sie innerhalb von wenigen Tagen wahnsinnig toll auftanken, weil jemand sich um die Kinder kümmert und die Eltern Zeit haben, ins Gespräch zu gehen, zu sprechen, lange zu schlafen, in Ruhe zu duschen, ohne sofort wieder aufzuspringen zu müssen, um sich da sich Erholung zu holen. Aber auch da heißt es wieder: Ich muss bereit sein, mir Hilfe zu holen. Auch auf die Gefahr hin, dass die Hilfe das vielleicht nicht so toll macht wie ich. Darauf zu vertrauen, dass es aber wichtig ist, denn wenn ich zusammenklappe, bricht alles auseinander. Ich erlebe auch Eltern, die sich tatsächlich noch andere Aufgaben suchen. Da bin ich ein großer Bewunderer, weil ich immer denke: Wo packt ihr das noch hin? Aber gerade diese Eltern sind oft sehr engagiert, versuchen politisch etwas zu bewirken, diskutieren mit Schulen, dass es da noch einmal ein anderes System braucht, um ihre Kinder in der Schule zu integrieren, organisieren Austausch-Selbsthilfegruppen von Eltern, um im Gespräch zu bleiben, weil sie sehen, es tut ihnen gut. Es ist eine Stelle im Leben, wo sie wieder Kontrolle haben, wo sie Einfluss haben und auch ihre Erfahrungen teilen können und damit anderen so ein bisschen das Leben leichter machen können. Und das gibt ihnen wieder Kraft.
Wenn wir nun auf die Geschwisterkinder gucken: Wie integriert man diese in eine Therapie, wie bezieht man sie in diesem langen Prozess mit ein?
Das Einbeziehen von Geschwisterkindern in diese Lebensform, in dieses Lebenskonzept, ist absolut herausfordernd. Zum einen sind Kinder eigentlich total offen für alles, was da kommt. Und ich bin überzeugt davon, dass es hilft, Geschwisterkindern transparent zu machen, in welcher Situation die Familie ist, was passiert ist, was auf einen zukommt. Mit der Aussage: Wir schaffen das, wir finden Wege, wie wir das gemeinsam machen. Also die Kinder informieren, denn wenn wir nicht mit ihnen sprechen, spüren sie, dass etwas nicht stimmt. Und das löst große Ängste aus, weil sie das Gefühl haben: Okay, irgendwas ist hier nicht in Ordnung, aber keiner redet mit mir, das ist kein sicherer Ort mehr für mich. Selbst wenn die Nachrichten unangenehm sind, ist die Wahrheit teilweise besser zu verdauen als das Nichtwissen. Im familientherapeutischen Setting laden wir Familien auch gemeinsam ein und geben den Geschwisterkindern den Platz, auszusprechen, was sie sich wünschen, was sie brauchen, was sie vermissen, was gut läuft. Wo wir ihnen auch zeigen, was sie richtig gut machen und wo sie vielleicht auch weniger Verantwortung übernehmen sollen und dürfen, wo Eltern ihnen die Erlaubnis geben, loszulassen. Das machen wir oft mithilfe von Therapeuten und Therapeutinnen.
Ansonsten brauchen auch gesunde Geschwister ihre Eltern. Wenn wir so viel zu tun haben, gilt es, in diesen sehr strukturierten Alltag auch Zeit für die Geschwisterkinder einzuplanen. Das schaffen wir nicht unbedingt immer zu zweit. Was unterschätzt wird, ist die Einzelzeit mit einem einzelnen Elternteil. Auch das reicht völlig aus zu sagen, heute ist Papa-Zeit, morgen ist Mama-Zeit. Vielleicht ist es nur eine halbe Stunde, in der halben Stunde bin ich aber nur für dich da. Da gehen wir zusammen Eis essen und quatschen. Also kein Handy, kein gar nichts, kein Job. Nur du und ich. Das hilft, die Beziehung zu stärken und dem Kind das Gefühl zu geben: Pass auf, wenn du mich brauchst, wenn es brennt oder nicht brennt, ich bin immer für dich ansprechbar.
„Auch das gibt Geschwisterkindern Sicherheit, dass es ein Netzwerk gibt,
das sich um die ganze Familie kümmert.“
Jetzt gibt es natürlich Phasen, in denen wir das weniger schaffen oder das Gefühl haben, das reicht aber nicht. Andere schaffen, das Kind regelmäßig zum Sport zu bringen und das wird schon knapp bei uns. Da lade ich dazu ein, sich zu erlauben, Freunde mit dazuzuholen, einen väterlichen oder mütterlichen Freund zu integrieren in die Familie, der so ein bisschen Ersatzpapa, Ersatzmama sein darf. Das heißt nicht, dass er Mama und Papa komplett ersetzt, aber er oder sie kann auch eine Bezugsperson für dieses Kind sein, bei der ich als Mama und Papa sicher sein kann, dass es gut aufgehoben ist bei dieser Freundin oder diesem Freund. Auch das gibt Geschwisterkindern Sicherheit, dass es ein Netzwerk gibt, das sich um die ganze Familie kümmert. Mit dieser Haltung: Die Familie ist uns wichtig; es ist herausfordernd teilweise; wir sind für euch da. Das ist für Geschwisterkinder tatsächlich nochmal ein sehr sicherer, guter Hafen. Auch in Schule und Kindergarten zu kommunizieren, was zu Hause los ist, wenn es vielleicht auch mal eine schwierige Nacht gab oder Mama drei Tage mit dem kranken Kind im Krankenhaus war. Die Schule zu informieren, das Kind könnte ein bisschen neben sich stehen, bräuchte vielleicht ein bisschen Zuspruch, eine Nachfrage, ob alles okay ist. Also immer wieder Punkte organisieren, kreieren für dieses Geschwisterkind, dass es das Gefühl hat: Hey, die Welt hat mich im Blick. Nicht nur mein Geschwisterkind, das kranke, sondern auch alle anderen sehen mich und fragen auch mich, wie es mir geht.
Was sind denn bewährte Methoden und Ansätze, die Du empfehlen kannst, um trotz des ganzen Stresses eine positive, konstruktive Kommunikation in der Familie zu fördern? Dass man sich noch sieht, Empathie füreinander hat, auch wenn es gerade drunter und drüber geht?
Welche Methoden helfen mir, positiv in die Welt und in meine Familie zu schauen? Dafür brauche ich tatsächlich sehr viel Selbstreflektion, immer mal wieder Zeit für mich, um mich innerlich zu sortieren, wo ich gerade stehe und wo ich auch Momente habe, in denen es mir nicht so gut geht. Und damit transparent umzugehen. Zu sagen: Heute bin ich müde, ich habe heute keine Geduld, können wir das morgen ausdiskutieren? Dinge auch auf ein andermal verschieben dürfen, das erlaubt uns mehr Handlungsspielraum und bewährt sich in Momenten, in denen man vielleicht eher explodieren würde. Zu sagen: Weißt du was? Ich merke gerade, ich schaff das nicht, ich komme später auf dich zurück. Und das dann später auch zu tun, vielleicht kurz zu überlegen untereinander: Mama brauch eine Tasse Kaffee, vorher sollten wir nicht mit ihr sprechen. Und das mit einem gewissen Lächeln. Je klarer etwas kommuniziert wird, desto leichter können wir das mit einem Lächeln ansprechen und sagen: Ah, ich merke, gerade ist es irgendwie doof, komm, wir machen das später, dann kriegen wir es beide wieder besser hin. Und das bekommt eine Leichtigkeit. Wir wissen, es ist schwierig. Wir sprechen das an und vielleicht schaffen wir es dann mit einem Lächeln. Und wenn wir mal heulen müssen, dann ist es so. Auch das darf sein, sich diese Dinge zu erlauben. Ich glaube, das nimmt ganz, ganz viel Druck.
In unserer letzten Podcastfolge geht es ums Thema Luftholen und Auszeiten. Du hast es eben schon einmal formuliert. Vielleicht hast Du noch darüber hinaus konkrete Tipps. Wie können Eltern zwischendurch regenerieren, auch für sich alleine, nicht nur als Paar?
Wie können Eltern regenerieren für sich im Einzelnen? Das ist immer die große Frage, weil wir glauben, wir brauchen so wahnsinnig viel Zeit. Aber wir brauchen gar nicht so viel Zeit, wir müssen sie uns nur regelmäßig nehmen, also ritualisieren. Ich empfehle tatsächlich, jeden Tag fünf Minuten mit sich allein einen Kaffee oder Tee zu trinken, was man am liebsten mag. Ohne Handy, ohne Buch, ohne Zeitung, ohne laufende Waschmaschine. Nur das Getränk und ich. Das Getränk genießen, die Wärme spüren, den Geschmack erleben. Das ist eine kurze Auszeit in diesem Moment. Genauso ist es der Moment einer Meditation oder einen Zeitungsartikel zu lesen. Ohne Unterbrechung, nur mit sich selbst, kann das sehr erholsam sein. Frisches, gutes Essen. Essen ohne Ablenkung, nur mit sich in diesem Moment, es zu genießen, zu erleben, die Gedanken zur Seite zu schieben. Ich denke jetzt nicht daran, was ich noch alles erledigen muss, sondern ich erlebe den Geschmack meines Salats mit den frischen Kräutern. Baden mit Lavendelduft. Ein Duft, den ich besonders mag aussuchen, den inhalieren und für einen Moment loslassen. Es gibt ganz kleine, verschiedene alltägliche Tools, die ich in die Woche integrieren kann, um aufzuatmen, ohne dass es mich überfordert, weil ich glaube, ich muss da jetzt noch hinfahren und es kostet mich zwei Stunden meines Lebens. Sondern wirklich ganz, ganz kleinschrittig gelingt es uns immer wieder, in kleinen Teilen zu regenerieren.
Was, würdest Du sagen, hat sich in den letzten Jahren aus wissenschaftlicher Perspektive verändert? Was macht man heute anders in der psychologischen, in der therapeutischen Begleitung von Familien mit chronisch kranken oder schwerbehinderten Kindern? Was hat man gelernt in den letzten Jahren?
Ich komme ja aus der systemischen Therapie, die schon immer einen besonderen Blick auf Familien hatte. Die Wissenschaft zeigt, dass diese Herangehensweise extrem gut wirkt, sie ist inzwischen sehr anerkannt und wird auch von den Kassen übernommen. Deshalb würde ich aus dieser Perspektive berichten. Wir erleben, wenn wir diese Familien lösungsorientiert begleiten, handlungsorientiert, mit der Einladung zu einem Perspektivwechsel, dann ist das wirksam. Weil wir Eltern zurück in die Wirksamkeit bringen und sie aus der Schuld und Ohnmacht herausholen, ihnen eigentlich gar nicht erlauben, da reinzugehen. Zu sagen: Hey, es gibt da draußen so viele verschiedene Möglichkeiten, dein Leben zu leben und du hast alles in der Hand, es positiv zu gestalten. Und ich glaube, wir sind offener geworden mit diesen Themen. Es ist leichter geworden zu sagen, ich hole mir dafür jetzt Unterstützung. Wir gehen transparenter damit um, es ist mit weniger Scham behaftet. Ich darf offen sagen, ich habe ein behindertes Kind und brauche Hilfe dafür. Keinen Stempel mehr zu bekommen, sondern zu sagen: Okay, es gibt Hilfe. Wir sind da, es ist transparent, überall zu finden – Beratungsstellen, Berater und Beraterinnen, die sich darüber Gedanken gemacht haben und wertschätzend mit Eltern arbeiten, ihnen also einen sicheren Raum bieten und sagen: Boah, Hut ab, was ihr da leistet. Und: Ich gehe mit euch diesen Weg, damit ihr das so lange wie möglich schafft.
Hast Du noch irgendeinen Punkt, der Dir gerade fehlt?
Ich habe in meiner Arbeit einen wichtigen Punkt entdeckt, der nicht zu unterschätzen ist. Und das ist die Idee der Gemeinschaft, dass die Familien mit ihrem Schicksal nicht alleine sind und nicht alleine bleiben sollten. Besonders wirksam ist, dass es ein Dorf, vielleicht ein selbst zusammengestelltes Dorf gibt um diese Familie herum, das sie unterstützt, und zwar unterstützt in den verschiedensten Facetten. Jeder kann eine bestimmte Aufgabe haben. Es gibt den väterlichen Freund oder die mütterliche Freundin. Es kann jemand sein, der beim Einkaufen unterstützt. Es kann die Mutter vom Freund sein, die das gesunde Geschwisterkind mit zum Sport nimmt, oder Oma und Opa, die sich einmal im Monat um das Geschwisterkind kümmern.
„Diese herausfordernden Situationen im Leben erinnern daran,
wie wichtig Gemeinschaft sein kann.“
Auch die Gemeinschaft der Betroffenen spielt eine ganz große Rolle im Wohlbefinden der betroffenen Familien. Das sehe ich besonders in diesen Freizeiten, wenn die Familien zusammentreffen und sich als normal erleben in allem, was sie tun, beim Frühstücken, beim Spielen, auf dem Spielplatz oder auch in den Elterngesprächen, in denen sie plötzlich merken: Okay, ich bin gar nicht so anders, die sind alle gleich und haben die gleichen Herausforderungen. Auch die Geschwisterkinder, die alle irgendwie ihr krankes Geschwisterkind mit im Blick haben, an dem Wochenende aber trotzdem genießen, dass sie plötzlich einfach mal nur spielen dürfen, ohne auf irgendetwas Rücksicht zu nehmen.
Gemeinschaft ist etwas, was wir in der modernen Welt ein bisschen aus dem Auge verloren haben, weil wir immer glauben, wir müssen alles alleine schaffen. Diese herausfordernden Situationen im Leben erinnern daran, wie wichtig Gemeinschaft sein kann, wie stärkend das ist und dass es eigentlich nur eine Sache braucht: dass wir wieder lernen, in Gemeinschaft zu denken und um Unterstützung zu bitten. Und dass es nicht bedeutet, dass sie etwas nicht schaffen, sondern dass wir extrem stark sind, wenn wir andere um Unterstützung bitten.

