Geschwister Kinder

Geschwisterkinder unterstützen: 10 Praxistipps

Unserem Verein ist es wichtig, immer wieder auf die emotionalen und sozialen Belastungen und Herausforderungen aufmerksam zu machen, mit denen Geschwister von Kindern mit Behinderung oder chronischer Erkrankung aufwachsen. Im dritten Teil unserer Workshop-Reihe zu diesem Thema haben die Referentinnen Naomi Miller und Kerstin Kowalewski konkrete Möglichkeiten zusammengestellt, Geschwisterkinder bewusst im Familienalltag zu unterstützen.

Mit kleinen Routinen einen großen Unterschied machen

Die Pflege eines Kindes mit Behinderung oder chronischer Erkrankung stellt nicht nur die Eltern vor Herausforderungen, sie bedeutet meist auch eine erhebliche emotionale und soziale Belastung für die Geschwister. Wie Eltern die Geschwisterkinder im Alltag ganz konkret unterstützen können, darum ging es beim dritten Online-Workshop der Themenreihe „Geschwisterkinder“. Am 24. September stellten die Referentinnen Naomi Miller und Kerstin Kowalewski umfassende praktische Möglichkeiten vor, wie, zum Teil mit ganz wenig Aufwand, der Familienalltag gestaltet werden kann, sodass er auch den Bedürfnissen der Geschwisterkinder gerecht wird. Tägliche Rituale wie bewusste gemeinsame Familienessenszeiten oder Gute-Nacht-Routinen geben Stabilität, das offene Kommunizieren eigener Überforderung zeigt den Kindern, dass um Hilfe bitten kein Zeichen von Schwäche ist. Das Benennen und Thematisieren von Gefühlen erleichtert einen gesunden Umgang mit den oft ambivalenten Stimmungen, das Zusammenstellen eines „Notfallkoffers“ oder Festlegen konkreter Handlungsschritte für eine Ausnahmesituation gibt den Kindern Sicherheit und nimmt das Erleben von Ohnmacht. Mit vielen weiteren Tipps und Best Practice-Beispielen ermutigten Miller und Kowalewski, die Geschwisterkinder bewusst in den Blick zu nehmen – und damit auch die Familie als Ganze zu stärken. Immer im Wissen, dass nichts perfekt laufen muss, dass Kinder alle Gefühle haben und Eltern auch überfordert sein dürfen, aber ganz kleine Dinge oft einen großen Unterschied machen können.

1. Familiäre Stabilität und Rituale

Der Familienalltag mit einem behinderten Kind ist manchmal nur schwer planbar, man muss spontan und flexibel bleiben und oft dreht sich alles um das Kind mit Einschränkung. Umso wichtiger ist es für die Geschwister, sich an einigen festen Gewohnheiten und „Leitplanken“ festhalten zu können. Bewusste gemeinsame Familienzeiten, etwa bei Mahlzeiten, festen Vorlese- oder Gute-Nacht-Rituale oder auch kleine Routinen im Wochenrhythmus (z. B. jeden Freitag Pizzabend) können Stabilität, Halt und Sicherheit vermitteln. Wenn möglich sollten die Rituale auch in Stress- oder Krankenhauszeiten beibehalten werden.

2. Einbeziehen und ernst nehmen

Da sich (zwangsläufig) viele Entscheidungen im Familienalltag nach dem Kind mit Behinderung richten, können Geschwisterkinder sich leicht übergangen oder nicht gesehen fühlen. Wo möglich, sollten die Kinder also sowohl bei kleineren als auch größeren Planungen und Entscheidungen mit einbezogen werden. Das können die Gestaltung eines Abends oder Wochenendes, aber auch größere Fragen sein. Hilfreich ist auch, abwechselnd die „Anwaltsrolle“ für das Geschwisterkind einzunehmen und auch aus dessen Sicht zu argumentieren. Nicht zuletzt gilt es, die Meinung oder Gefühle des Geschwisterkindes immer wieder bewusst zu erfragen – und wertzuschätzen.

3. Hilfe annehmen und vorleben

Nach Hilfe fragen, ist kein Zeichen von Schwäche, sondern zählt zu einem gesunden und konstruktiven Umgang mit Problemen. Kinder lernen das am besten, wenn sie es bei ihren Eltern beobachten. Wenn sie erleben, dass Eltern ihre Überforderung offen kommunizieren und bei anderen angemessen nach Unterstützung fragen, liefert ihnen das eine Handlungsstrategie in Situationen eigener Hilfsbedürftigkeit und damit eine Ressource für das ganze Leben. Auch eine bewusste Ermutigung dazu, Hilfe zu suchen oder ein klares Nein zu formulieren, wenn ihnen etwas zu viel ist, kann den Kindern helfen, ihre eigenen Grenzen zu achten und nicht zu vergessen, dass wir gemeinsam am stärksten sind.

4. Pflegeaufgaben und Verantwortung reflektieren

Mithilfe in der Pflege kann nicht nur eine Belastung, sondern auch eine Ressource sein. Entscheidend in diesem Punkt ist der Freiraum, der den Geschwisterkindern dabei gewährt wird. So ist es sinnvoll, gemeinsam zu besprechen, welche Aufgaben das Geschwisterkind beispielsweise übernehmen möchte und welche auch bewusst nicht. Das beinhaltet auch, zu akzeptieren, wenn ein Kind „Nein“ sagt oder eine Aufgabe „eklig“ findet. Übernimmt ein Kind Verantwortung, tut Lob gut, doch sollten die Eltern auch darauf achten, dass das Kind sich nicht selbst überfordert.

5. Gesunder Umgang mit Gefühlen

Liebe, Wut, Scham, Eifersucht, Angst: Oft erleben Geschwisterkinder eine Vielzahl an ambivalenten Gefühlen. Damit sollte aufmerksam und offen umgegangen werden. Zum einen, indem die Eltern wie bei der Überforderung auch ihre Gefühle offen, authentisch und angemessen äußern. Zum anderen ist es wichtig, auf die Gefühle der Kinder selbst direkt einzugehen. Hilfreich ist in einem ersten Schritt häufig schon, die Gefühle zunächst zu benennen und zu validieren, beispielsweise mit einem einfachen, ruhigen Satz wie „Du bist wütend – und das ist okay“. Zusätzlich können verschiedene kreative Ausdrucksformen gefunden werden, um die Gefühle auch sichtbar abzubilden, etwa über Farben, Malen oder Basteln. Mit einer Gefühlsuhr oder -scheibe können Kinder auch nonverbal zeigen, wie sie sich fühlen, und auch Musik oder z. B. eine Gefühlstrommel können den Kindern eine Möglichkeit geben, ihre Gefühle zu kommunizieren und zu verarbeiten.

6. Notfallstrategien entwickeln

Immer wieder kommt es im Leben mit einem behinderten oder kranken Kind zu Krisensituationen wie z. B. Anfällen oder Krankenhausaufenthalten. Für die Geschwisterkinder bedeutet das oft Überforderung und Stress. Um ihnen hier Sicherheit und Handlungsspielraum zu bieten, ist es wichtig, vorbereitend mit dem Kind Strategien für einen solchen Fall festzulegen. Klare Absprachen, etwa wohin das Kind gehen und was es tun kann, wenn es hektisch wird und welche Bezugspersonen (beispielsweise aus der Nachbarschaft) es ansprechen kann („Wenn etwas ist, geh zu Frau Müller“), reduzieren das Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit. Eine konkrete Idee ist auch die Zusammenstellung eines „Notfallkoffers“ beispielsweise mit Bildern, Musik, Spielen, einem Kuscheltier oder Erinnerungsstücken.

7. Mit Stigmatisierung und Scham umgehen

Wenn man mit einem Kind mit Behinderung unterwegs ist, begegnen einem immer wieder unangenehme, neugierige oder unangebrachte Blicke, Sprüche oder Fragen. Eltern können hier mit dem Geschwisterkind bzw. als Familie Strategien erarbeiten, wie man gemeinsam oder auch alleine darauf reagieren kann und vorleben, dass es ok ist, Grenzen zu setzen, sei es humorvoll, mit klaren Worten oder auch nonverbal. Schamgefühle sollten nicht abgetan, sondern zugelassen und benannt werden („Das ist okay, dass Du Dich schämst“).

8. Eigene Räume und Exklusivzeit schaffen

Oft steht wegen seiner besonderen Bedürfnisse das Kind mit Behinderung im Mittelpunkt des Familienlebens. Umso wichtiger ist es, den Geschwisterkindern Erlebnisse und Anerkennung ganz unabhängig vom behinderten Kind zu ermöglichen und geben. Konkrete Möglichkeiten sind hier regelmäßige exklusive Zeiten mit dem Geschwisterkind, etwa ein Spaziergang, Vorlesen oder ein Abendgespräch. Auch die Familienzeit sollte so gestaltet werden, dass dabei immer die Bedürfnisse des gesunden Kindes sichtbar bleiben. Nicht zuletzt ist es wichtig, Räume zu schaffen, in denen das Geschwisterkind einfach „nur Kind“ sein darf – ohne Verantwortung.

9. Über Behinderung sprechen und informieren

Kinder verstehen und akzeptieren leichter, was um sie vorgeht, wenn sie altersgerecht informiert werden. Hier können Eltern mit regelmäßigen, kindgerechten Gesprächen über Behinderung ansetzen. Dabei ist es oft hilfreich, eine symbolische oder spielerische Sprache zu verwenden, beispielsweise die Bezeichnung „Muschelkind“, wenn jemand sich zurückzieht. Es gibt hier auch eine Vielzahl an Kinderbüchern, die als Ausgangspunkt für Gespräche genutzt werden können. Empfehlungen findet man etwa bei der Stiftung „Familienbande“.

10. Soziales Umfeld und Unterstützungsmöglichkeiten einbeziehen

Ein stabiles Netzwerk an Unterstützern entlastet die ganze Familie und stärkt auch die Geschwisterkinder nachhaltig. Das können Nachbarn, Freunde oder Verwandte sein, zu denen einen vertrauensvolle Beziehung besteht, förderlich sind aber auch Geschwistergruppen oder Freizeiten, auf denen die Möglichkeit zu Austausch und Erholung besteht. Wenn möglich sollten Eltern die Kontakte zu anderen Geschwisterkindern fördern – denn diese verstehen am besten, wie es sich anfühlt, in einer besonderen Familie zu leben.

Wir wissen, dass der Familienalltag mit einem Kind mit Behinderung oft ein Spagat und es als Eltern oft nicht leicht ist, allen Bedürfnissen (und dazu zählen auch die eigenen) gerecht zu werden. Vielleicht können Euch diese Tipps helfen, Eure Familie nachhaltig zu stärken. Vergesst dabei aber nie, dass es in Ordnung ist, auch überfordert zu sein. Beziehung, Gespräche und kleine Inseln im Alltag sind immer noch die besten Schutzfaktoren für Euch und Eure Kinder. Und um das zu pflegen, braucht es oft gar nicht viel. Denn manchmal machen schon kleine Dinge einen großen Unterschied.

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