Geschwister Kinder

Zwischen Belastung und Bereicherung

Das Aufwachsen mit einem behinderten Geschwisterteil ist für Kinder und Jugendliche Herausforderung und Chance zugleich. Wir haben für Euch zusammengefasst, was das Leben von Geschwisterkindern so besonders macht und wie Ihr sie im Alltag bestmöglich unterstützen könnt

Worum geht es in dieser Folge?

„Die Krankheit unseres Geschwisterkindes ist die größte Herausforderung, aber auch gleichzeitig die größte Bereicherung in unserem Leben.“ Als Marian Grau neun Jahre alt ist, verliert er seinen älteren Bruder Marlon, der mit einer schweren Stoffwechselkrankheit geboren worden war. „Es wäre schlichtweg gelogen zu sagen, dass meine Kindheit eine leichte war“, schreibt der inzwischen 22-Jährige über sein Aufwachsen als Bruder eines Kindes mit chronischer Erkrankung. Kindergeburtstage im Krankenhaus, eine kleine Intensivstation zu Hause, Eltern, die von der Pflege ihres kranken Sohnes stark beansprucht werden, die von den Ärzten vorausgesagte geringe Lebenserwartung des Bruders, die wie ein Schatten über dem Familienalltag schwebt – das, was Marian als kleiner Junge erlebt, ist weit weg von Normalität. Es sind, so formuliert er es, „für ein Kind und eine Familie eigentlich unzumutbare Herausforderungen“. Doch daraus auf eine „schlimme Kindheit zu schließen“, so Marian heute, wäre für ihn genauso falsch. „Denn wer das Leben nicht anders kennt, der lernt mit den härtesten Umständen umzugehen, sie zu überkommen und – mehr noch: an ihnen zu wachsen.“

Expertinnen in dieser Folge

Prof. Dr. Melanie Jagla-Franke

Professorin für Gesundheitswissenschaften an der Hochschule Neubrandenburg


Prof. Dr. Jagla-Franke hat Rehabilitationspsychologie studiert und sowohl im Bereich psychischer Erkrankungen im Krankenhaus, als auch in Forschung und Lehre gearbeitet. Sie hat an der Universität Flensburg zum Thema „Geschwisterkinder“ promoviert. Das ausführliche Interview mit Prof. Dr. Melanie Jagla-Franke findet Ihr hier.

In Folge drei des Podcasts „Ab heute Plan B“ spricht Marian mit Eckart von Hirschhausen und Katrin Eigendorf nicht nur über seine eigenen Erfahrungen als Geschwisterkind, sondern auch über das, was er in der ehrenamtlichen Arbeit mit anderen Geschwisterkindern, für die er sich bei Philip Julius e.V. engagiert, erlebt und beobachtet. Die besondere Situation, in der man als Geschwisterkind aufwächst, lehre einem schon früh einen „Blick fürs Wesentliche“, meint Marian. „Und vielleicht auch eine gewisse Dankbarkeit, die auch im Leben nachwirkt. Gleichzeitig, das sehe ich auf unseren Geschwisterbegegnungen, sind diese Kinder so unglaublich emotional intelligent, sensibel und empathisch. Es macht total Spaß, diese Kinder zu begleiten.“  Kinder, die durch ihre Selbstständigkeit und Selbstreflexion eigentlich oft „sich selbst die beste Begleitung“ seien, wie er ergänzt. „Häufig sehe ich auch, dass die Kinder sehr begabt sind und ganz tolle Talente haben. Zum Beispiel unheimlich musikalisch sind oder unglaublich gut schreiben können. Und es ist total toll, diese Kinder dann gezielt zu fördern und zu ermutigen, ihren Weg zu gehen, weil ich glaube, dann sind wir Geschwisterkinder auch wunderbar aufgestellt für ein gutes Leben.“

Wie viele Kinder in Deutschland mit einem chronisch kranken oder behinderten Geschwisterkind aufwachsen, ist statistisch nicht genau erfasst. Verschiedene Schätzungen gehen jedoch von 1,24 Millionen bis 2 Millionen Kindern und Jugendlichen aus, die unter diesen besonderen Umständen aufwachsen. Die ungewöhnliche Situation, in der Geschwisterkinder leben, können, wie Marian gezeigt hat, zu Entwicklungschancen werden. Die Belastungen, denen die Kinder ausgesetzt sind, können aber auch zu inneren Nöten und verschiedenen psychischen Auffälligkeiten führen. Philip Julius e.V. ist es daher wichtig, immer wieder gezielt auch die Geschwisterkinder in den Blick zu nehmen und ihnen die Unterstützung zu geben, die sie für ihre eigene Entwicklung brauchen.

Wer Geschwisterkindern, sei es in der eigenen Familie oder auch im weiteren Umfeld, helfen möchte, sollte sich zunächst bewusst machen, welche konkrete Herausforderungen es sind, die zur Belastung werden können. Hier geben wir einen Überblick über mögliche Schwierigkeiten, immer im Wissen, dass jede Familie und Situation einzigartig ist und es am Ende von vielen Faktoren abhängt, ob und wie sehr diese Aspekte das Familienleben und die Entwicklung der Geschwisterkinder beeinflussen.

Eingeschränkte Verfügbarkeit der Eltern:

In der Regel sind die Eltern eines Kindes mit Behinderung oder chronischer Erkrankung stark durch dessen besondere Bedürfnisse beansprucht. Pflege, häufige Arzt- oder Therapiebesuche, aufwändige Behördenformalitäten, eine kompliziertere Alltagsorganisation – da bleibt oft wenig Zeit für die Ansprüche und Bedürfnisse der anderen Geschwisterkinder. Diese müssen nicht selten mit weniger Aufmerksamkeit und Zuwendung leben und sind damit einem größeren Risiko der Vernachlässigung ausgesetzt.

Innere Konflikte:

Die besondere Familiensituation kann bei Geschwisterkindern dazu führen, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse zurückstellen, um den externen Anforderungen gerecht zu werden. Mit ihren negativen Emotionen wie Ängsten, Traurigkeit, Eifersucht oder Scham bleiben sie aufgrund der eingeschränkten Verfügbarkeit der Eltern oft alleine, fühlen sich isoliert oder schuldig und finden sich in einem inneren Konflikt zwischen den eigenen Wünschen und Bedürfnissen und einem Verantwortungsgefühl für die Familie wieder.

Leben in einer anderen Welt:

Geschwisterkinder erleben ihre Geschwisterbeziehung häufig nicht als „normal“ und leben in einer anderen Realität als sie es von ihrem sozialen Umfeld bei anderen Gleichaltrigen etwa in der Schule oder Nachbarschaft gewohnt sind. „Geschwister selbst haben immer das Gefühl, sie sind allein auf der Welt mit ihrer Situation“, erklärt Rehabilitationspsychologin Melanie Jagla-Franke im Podcast. Oft äußern sie Gefühle wie Wut oder Eifersucht nicht – aus Angst, nicht verstanden zu werden oder egoistisch zu erscheinen. Auf Dauer kann diese dysfunktionale Emotionsregulation zu einer psychischen Belastung werden.

Belastende Außenwahrnehmung:

Auch in der Interaktion mit Außenstehenden kann dieses „Leben in einer anderen Welt“ belastend sein. Geschwisterkinder werden häufig entweder pauschal bemitleidet oder als besonders „tapfer“ wahrgenommen. Beides kann dazu führen, dass ihre eigentliche Situation, ihre Gefühle und Bedürfnisse nicht beachtet werden und löst oft Scham- und Ärgergefühle aus.

Diskriminierung und Unverständnis:

Vor allem, wenn die Erkrankung ihres Geschwisterteils äußerlich sichtbar ist, erleben Geschwisterkinder immer wieder Diskriminierung in der Außenwelt. In der Schule oder anderen sozialen Settings werden sie oft Ziel von Hänseleien oder Mobbing.

Hoher Leistungsdruck:

Manchmal kommt es vor, dass Eltern eines chronisch erkrankten oder behinderten Kindes überhöhte Erwartungen an das gesunde Geschwisterkind haben, um eigene Enttäuschungen zu kompensieren. Das bedeutet für die Geschwisterkinder Überforderung und Stress, die sich in Verhaltensauffälligkeiten äußern können.

Übernahme von Betreuungsaufgaben/Parentifizierung:

Werden Geschwisterkinder übermäßig in die Pflege des erkrankten Kindes einbezogen oder übernehmen unangemessene (emotionale oder praktische) Verantwortung, kann sie das nicht nur von altersgerechten Aktivitäten abhalten, sondern auch in ihrer eigenen Entwicklung nachhaltig prägen und einschränken.

Diese typischen Belastungsfaktoren kennen viele Geschwisterkinder und ihre Familien aus dem Alltag. Das Aufwachsen mit einem behinderten oder chronisch erkrankten Geschwisterkind kann jedoch auch eine besondere Entwicklungschance sein und die Ausprägung wertvoller Kompetenzen sowie psychischer Resilienz begünstigen, wie verschiedene Studien zeigen. So weisen Geschwisterkinder häufig ein höheres Maß an Reife, Unabhängigkeit, Empathie und sozialer Kompetenz auf. Die angemessene Übernahme von Verantwortung stärkt zudem persönliche Fähigkeiten. Dennoch ist es wichtig, sie mit den Herausforderungen ihres besonderen Alltags nicht alleine zu lassen, sondern in ihren emotionalen Bedürfnissen wahrzunehmen und in ihrer Entwicklung bewusst zu unterstützen. Das Universitäts-Kinderspital Zürich hat fünf Bereiche benannt, die im Umgang mit Geschwistern von krebskranken Kindern beachtet werden sollten. Diese lassen sich gut auch auf die Unterstützung von „unseren“ Geschwisterkindern übertragen. Wir stellen sie Euch hier in leicht abgewandelter, adaptierter Form vor.

Information und Aufklärung:

Sprecht mit den Geschwisterkindern über die Situation, informiert sie über die Erkrankung oder Behinderung ihres Bruders oder ihrer Schwester und gebt ihnen Gelegenheit zum Fragenstellen. Das löst Unklarheiten und hilft, Ängste abzubauen.

Kommunikation:

Führt offene Gespräche, in denen Gefühlen und Sorgen Raum haben. Das gibt den Geschwisterkindern die Möglichkeit, ihre Emotionen auszudrücken und zu verarbeiten.

Qualitätszeit einplanen:

Schafft Momente, in denen ihr ganz bewusst und exklusiv Zeit mit den Geschwisterkindern verbringt. So zeigt ihr ihnen, wie wichtig sie sind, dass ihr sie, ihre Bedürfnisse und auch ihren Einsatz im Familienleben wahrnehmt und vermindert das Gefühl von Vernachlässigung.

Normalität und Routinen bewahren:

Auch in stressigen Zeiten ist es wichtig, dass Geschwisterkinder ihren Alltag so normal wie möglich gestalten können. Kleine Alltagsroutinen und -rituale können hier sehr hilfreich sein und sollten möglichst beibehalten werden, da sie Sicherheit vermitteln. Geht das nicht, bezieht Freunde oder Verwandte ein, die den Kindern eine besondere Zeit ermöglichen, etwa eine Übernachtung beim besten Freund/der besten Freundin.

Vernetzung und Unterstützung:

Fördert die Beteiligung der Geschwisterkinder an Schul- und Freizeitaktivitäten. Das trägt dazu bei, dass sie eine ausgeglichene Entwicklung erleben. Ermöglicht ihnen darüber hinaus aber auch die Teilnahme an speziellen Veranstaltungen, Treffen und Programmen für Geschwisterkinder. Der Austausch mit anderen, die Ähnliches erleben, ist aus unserer Erfahrung besonders wertvoll.

„Die Geschwisterkinder“, fasst Marian Grau es zusammen, „die tragen alle ihr eigenes Päckchen und bringen auch alle ihre eigene Geschichte mit. Für mich ist zum Beispiel psychotherapeutische Begleitung genauso ein Werkzeug wie ehrenamtliche Begleitungen durch einen Kinder- und Jugendhospizdienst. Das Wichtigste ist, dass die Kinder erkennen, Hilfe anzunehmen und dass sie auch den Wert darin sehen, auf sich selber aufzupassen.“ Auch das müsse man lernen, meint er. „Dass es auch um sich selber geht und man vor allem auch sein eigener Mensch ist, in diesen Wirren von der Familie, in diesem nicht ganz so nährstoffreichen Boden, in dem manche Kinder aufwachsen.“

„Was haben Kakteen und Geschwisterkinder gemeinsam?“, fragt die dritte Podcast-Episode von „Ab jetzt Plan B“. Es ist genau das, was Marian Grau mit einem „nicht ganz so nährstoffreichen Boden“ meint: Kakteen sind bekannt dafür, in extremen Bedingungen zu gedeihen, etwa in trockenen oder unwirtlichen Umgebungen. Ebenso geht es Geschwisterkindern – sie müssen in oft herausfordernden Umständen aufwachsen. Dabei zeigen sie, ebenso wie Kakteen, aber eine bemerkenswerte Widerstandsfähigkeit, können sich anpassen, mit schwierigen Bedingungen umgehen und – mit der passenden Unterstützung – auch unter widrigen Umständen wunderschön aufblühen.

Weitere Informationen rund um unsere Angebote für Geschwisterkinder findet Ihr hier.

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