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Philip Julius

Die Inklusions-Nimbys aus Tann

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Ich gebe zu: Ich hatte bis vor kurzem noch nie vom Städtchen Tann in der Rhön gehört. Jetzt bin ich um eine Erkenntnis reicher: Tann ist ein anerkannter Luftkurort im Landkreis Fulda – und neuerdings durch das Phänomen der Inklusions-Nimbys bekannt. Ein Phänomen, das es aber nicht nur im Städtchen Tann gibt.

Ein Essay von Marco Hörmeyer

Alles begann Ende April mit einem verteilten Flugblatt. Darin stellten drei Mitglieder des Stadtparlamentes eine bemerkenswerte These auf: Touristen würden das beschauliche Städtchen Tann meiden, weil es dort einfach zu viele Menschen mit Behinderung und keine gute „Durchmischung“ gebe. Zudem heißt es weiter (Zitat): „Das mit dem Krankheitsbild der Menschen mit geistigen und seelischen Beeinträchtigungen einhergehende Verhalten, wie z.B. mangelnde Distanz, können und möchten viele Touristen nicht aushalten.“

Der Sturm der Entrüstung ließ sich nicht lange auf sich warten. Nach den regionalen Zeitungen berichteten auch überregionale Medien über das verteilte Flugblatt und die Verfasser. Deren reflexhafte und erwartbare Rechtfertigung kam prompt: „Wir haben nichts gegen Menschen mit Behinderung!“ Angeblich würde es aber viel Zuspruch seitens der Tanner Bürger geben: „Endlich spricht es mal jemand aus!“

Schnell könnte man zur Auffassung kommen, dass das Tanner Flugblatt ein trauriger Einzelfall ist, verfasst von fehlgeleiteten und verblendeten Ewiggestrigen. Doch so einfach ist es leider nicht. Denn in Tann tritt ein Phänomen offen zutage, dass es vielerorts gibt und weit verbreitet ist: die Inklusions-Nimbys.

Der Begriff Nimby ist ein englisches Akronym und steht für Not in my backyard“ („Nicht in meinem Hinterhof“). Bekannt wurde der Ausdruck insbesondere im Zusammenhang mit dem Ausbau Erneuerbarer Energien: Nimbys sind Personen, die den Bau von Windrädern und Solarparks befürworten – so lange sie weit genug entfernt gebaut werden und nicht die eigene kleine Welt stören. Oder kurz zusammengefasst: „Ich finde das total super – nur nicht vor meiner Haustür!“

Nimbys gibt es mittlerweile in vielen Lebensbereichen. Auch im Bereich der Inklusion. Werden Menschen auf der Straße befragt, was sie von mehr Inklusion halten, antworten mit hoher Wahrscheinlichkeit so gut wie alle: „Finde ich richtig und wichtig – unbedingt!“. Findet Inklusion hingegen sichtbar, hörbar und fühlbar vor der eigenen Haustür statt, dann sehen viele Meinungen sicherlich anders aus: „Ja, aber warum denn hier? Geht das nicht woanders viel besser?“ Oder übersetzt: „Lasst mich in meiner schönen Welt damit in Ruhe!“

Woran liegt das? Und was treibt die Verfasser des Tanner Flugblatts an? Letztlich lässt sich die Frage sehr klar beantworten. Es sind Berührungsängste. Noch immer leben und arbeiten Menschen mit und ohne Behinderung in Parallelwelten, so gut wie ohne Kontakt und Austausch miteinander. Es gibt kaum Begegnungsräume, kaum gemeinsame Projekte. Menschen mit Behinderung sind unsichtbar.

Der Grund hierfür ist ebenso klar: Es mangelt am Willen, Inklusion auch wirklich voranzutreiben. Hartnäckig hält sich der fatale Irrglaube, dass Inklusion generell viel zu viel Geld kostet und dass davon ja nur wenige profitieren. Da Menschen mit Behinderung und deren Angehörige in der medialen Öffentlichkeit zudem nicht auftauchen – weil sie keine „Klicks“ bringen –, lässt sich das Thema Inklusion gut wegschieben und verdrängen. Interessiert ja niemanden. Ein Teufelskreis.

Wir können manchen Menschen mit Berührungsängsten daher nicht mal einen Vorwurf machen. Wie sollen sie Inklusion erleben – wenn sie kaum jemand will und vorantreibt? Wenn wir es nicht mal schaffen, ein gemeinsames Verständnis des Wollens zu erreichen? Dabei ist es gar nicht so schwer, Inklusion vor Ort fest zu verankern – indem Kommunen z.B. jede Stadtentwicklungsmaßnahme nicht nur nach Klimaschutz- und Wirtschaftlichkeitskriterien prüfen, sondern auch hinsichtlich des Inklusionsgedankens. Das alleine schärft bereits das Bewusstsein dafür, welchen Gewinn eine gelingende Inklusion für die Stadt- und Zivilgesellschaft darstellt.

Wenn wir es schaffen, inklusiver zu denken, dann ist Inklusion kein Feigenblatt mehr. Dann gehören solche diskriminierenden Flugblätter wie in Tann mehr und mehr der Vergangenheit an. Und Inklusions-Nimbys erst recht.

 

Zum Autor: Marco Hörmeyer, Jahrgang 1973, lebt und arbeitet in Osnabrück, ist Journalist und Vater der 14-jährigen Amelie. Amelie ist aufgrund eines massiven Sauerstoffmangels unter der Geburt und der daraus resultierenden bilateralen spastischen Cerebralparese mehrfach schwerstbehindert. Sie hat einen hohen Pflegebedarf (Pflegegrad 5) und muss rund um die Uhr betreut und gepflegt werden. Seit 2016 betreibt und schreibt Marco Hörmeyer aus der Perspektive seiner Tochter den Blog „Amelie Wundertüte“ auf www.amelie-wundertuete.de.

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