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„Es fühlt sich an, als wird man vergessen“

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„Es fühlt sich an, als wird man vergessen“

Tara hat eine schwere Form der Epilepsie und frühkindlichen Autismus. Sie kann nur Laute von sich geben. Ein erneuter Lockdown wäre für ihre Familie „der absolute Horror“.

von Patrick Eickhoff, Wetterauer Zeitung

In der Pubertät steht die Welt auf dem Kopf. Tara ist mittendrin. Sie ist ein aufgewecktes Kind. Die 13-Jährige liebt die Musik und das Tanzen. Gerade sitzt sie mit einem Buch in der Hand auf der Wohnzimmercouch der Familie Krüger in Nidderau. Plötzlich wird es laut: Tara schreit und rennt in ein anderes Zimmer, kommt danach zurück. Ihre Gedanken und Gefühle kann die 13-Jährige nicht mit ihren Eltern oder Freunden teilen. Tara ist schwerbehindert. Schwere Epilepsie. Hinzukommt frühkindlicher Autismus. Tara ist zwar gewachsen, hat sich aber seit sie klein ist geistig kaum weiterentwickelt. Bis heute kann sie nicht sprechen, sich nicht anziehen oder einfach ein Brot schmieren. „Willst du etwas trinken?“, fragt Mutter Michaela ihre Tochter. Tara gibt nur einen Schrei von sich. Mehr Kommunikation hat es zwischen der 13-Jährigen und ihrer Mutter bisher nicht gegeben. „Wir wissen nicht genau, wie aufnahmefähig sie ist.“

Die Diagnose vor rund 13 Jahren hat das Leben der Familie von heute auf morgen auf den Kopf gestellt. Taras Geburt verlief komplikationslos. „Auch das erste halbe Jahr war völlig alltäglich und alle U-Untersuchungen waren absolut unauffällig“, schildert Mutter Michaela. Doch dann stellte sie fest, dass Tara eigenartige Bewegungen mit den Armen macht. „Wir haben umgehend Kontakt mit der Uni-Klinik in Gießen aufgenommen, und leider hat sich der Verdacht der schweren Epilepsie bestätigt.“

Kein Medikament gefunden, das hilft

Für Familie Krüger, zu der auch der 17-jährige Ben gehört, ändert dieser Moment alles. Zwar geht Tara in denselben Kindergarten wie Ben, allerdings mit einer Betreuerin an ihrer Seite. „Kompliment an den Kindergarten, die haben es vier Jahre lang durchgezogen“, sagt Michaela Krüger. Das sei nicht immer einfach gewesen. Denn Tara ist „schlecht einstellbar“, wie die 48-Jährige beschreibt. Das heißt: Bis heute ist kein Medikament gefunden worden, das der 13-Jährigen hilft. „Bei 90 Prozent der Epilepsie-Erkrankten reicht ein Medikament. Bei Tara helfen keine vier.“

Ihre Eltern müssen jeden Tag mit einem Anfall rechnen, auch wenn sie mal längere Zeit keinen hatte. Die Epilepsie-Anfälle sind unterschiedlich stark. Von kleineren Zuckungen bis zum plötzlichen Umfallen. Dabei hat sich die 13-Jährige bei einem Sturz auch ein Stück von einem Zahn ausgeschlagen. Vater Bernd hat mittlerweile einen Spezialhelm angefertigt, der vor Verletzungen bei Stürzen schützen soll.

Alltag komplett nach Bedürfnissen der Tochter ausgerichtet

Tara wächst zu Hause auf. Michaela Krüger stellt als selbstständige Handelsvertreterin ihren Plan nach ihrer Tochter um. Bernd Krüger konnte sich mit seinem Arbeitgeber darauf einigen, dass er jeden Freitag frei hat. „Das ist für uns eine große Entlastung, denn wenn Tara in der Schule ist, haben wir den Freitag mal zum Abschalten für uns.“ Der Vater wirkt erleichtert. Diese Momente sind seltener geworden im Leben von Bernd und Michaela Krüger. „Wir müssen auch schauen, dass wir unseren Sohn nicht aus den Augen verlieren.“

Tara geht derzeit auf die Frida-Kahlo-Schule in Bruchköbel. Eine Einrichtung mit Förderschwerpunkt geistige Entwicklung und einer Abteilung für körperliche und motorische Entwicklung. Bernd und Michaela Krüger sind froh. dass der Lockdown die Einrichtung diesmal verschont gelassen hat. „Der erste Lockdown war extrem schwierig“, berichtet er. Tara könne eben nicht einfach vor den Fernseher gesetzt werden oder mal an der Konsole spielen. „Wir waren sehr viel mit dem Fahrrad unterwegs und auf Spielplätzen. Tara schaukelt für ihr Leben gerne“, sagt Michaela Krüger. Sie lächelt. Ihr Blick schweift zu ihrer Tochter. „Sie ist so glücklich, wenn sie auf der Schaukel sitzt. Leider waren auch die Spielplätze irgendwann gesperrt.“

Probleme mit Abstand und Maske

Deshalb musste die Familie improvisieren und beschäftigte Tara viel zu Hause. Auf dem Trampolin im Garten lässt die 13-Jährige ihre Freude heraus. „Meine Tochter kann sich leider nicht anders ausdrücken und hat ab und zu mal lauter geschrien. Das hat nicht allen gepasst“, berichtet Bernd Krüger. Nachbarn hätten sich lautstark beschwert. Sätze wie, „so was hätte es früher nicht ge-geben“, machen den Vater traurig. „Tara hat es sich bestimmt nicht ausgesucht. Wir wollen nur, dass es ihr gut geht.“ Dann kullern beim 51-Jährigen die Tränen. „Ich liebe meine Tochter. Egal, ob sie eine Behinderung hat, oder nicht.“

Michaela und Bernd Krüger können die Arbeit mit Tara alleine nicht mehr stemmen. „Irgendwann ist man am Limit“, sagt die Mutter. Deshalb stehen sie in Kontakt mit verschiedenen Vereinen. Hilfe in Form von Betreuung kommt beispielsweise vom gemeinnützigen Verein Lalelu aus Bruchköbel. Michaela Krüger hat aber auch am Mutterwochenende des Philip-Julius-Vereins aus Bad Vilbel teilgenommen. Seit einigen Jahren ist der Verein aus der Quellenstadt ein wichtiger Ansprechpartner für Familien, die mit einem schwerstbehinderten Kind leben, bietet Sprechstunden, Kurse und Freizeiten an. Außerdem vermittelt er Familien an die richtigen Anlaufstellen. „So ein Angebot ist wichtig“, sagt Bernd Krüger. „Ich würde mir wünschen, dass es generell mehr Informationen beziehungsweise mehr Rückhalt geben würde.“ Fast alle Informationen habe sich die Familie aktiv einholen müssen. Niemand habe den Krügers erklärt, was ihnen zusteht, wo ihre Rechte liegen. „Manchmal fühlt es sich an, als wird man vergessen.“

Offener Brief an Politiker mit Bitte um Hilfe

Dieses Problem hatte auch der Verein Philip-Julius im Sommer aufgegriffen. In einem Brief forderten die Verantwortlichen die Politik dazu auf, „schnellstmöglich Unterstützungsangebote bereitzustellen“. Betroffene Eltern seien einer noch immenseren Last ausgesetzt als ohnehin schon und würden kaum gehört.

Das sehen auch die Krügers so. „Uns fehlt die Lobby“, sagen die Eltern. Corona hat dieses Jahr für die ganze Familie noch schwerer gemacht. Die Freizeit des Vereins aus Bad Vilbel ist abgesagt. Das Therapieschwimmen für Tara findet wegen der geschlossenen Bäder nicht mehr statt. Indoorspielplätze sind geschlossen. Die Ergotherapeutin vergibt keine Termine mehr, „weil Tara den Abstand nicht einhalten kann“, erzählt Bernd Krüger und schüttelt mit dem Kopf. Wieder ringt der 51-Jährige um Fassung. Im Bus, der die 13-Jährige Tara jeden Morgen abholt und zur Schule fährt, gab es außerdem wegen der Maskenpflicht Probleme. „Deshalb haben wir an ihrem Helm eine Plexiglasscheibe angebracht.“

Erneuter Lockdown „wäre der absolute Horror“

Michaela Krüger hofft, dass die Schule weiterhin offen bleibt. „Uns wurde schon erläutert, dass eventuell Home-schooling ansteht. Doch wie soll das funktionieren? Auch für ihren Bruder Ben ist es dann schwer, sich zu konzentrieren.“ Eigentlich sollte Tara in diesem Sommer ein Praktikum machen, um zu sehen, welche Tätigkeiten sie in einer Behindertenwerkstatt übernehmen könnte. „Auch das ist wegen Corona ausgefallen“, bedauert die 48-Jährige. Nun kämpft auch die Mutter mit den Tränen. „Wir wollen doch nur eine Perspektive sehen, und das ist momentan sehr schwer.“ Und was passiert, wenn aus dem „Lockdown light“ wieder ein richtiger Lockdown samt Schulschließung wird? Daran möchte Michaela Krüger nicht denken. „Das wäre der absolute Horror.“

Der Verein Philip-Julius wurde 2013 gegründet und ist nach dem damals schwer kranken Philip Julius benannt. Er litt an einem nicht heilbaren Krampfleiden. Zu den Gründungsmitgliedern gehören seine Eltern und Menschen, die ihn betreut, gepflegt und bis zu seinem Tod begleitet haben. Der Verein aus Bad Vilbel unterstützt Familien mit schwerstbehinderten Kindern. Jene, die nicht alleine essen oder trinken können. Auch solche, für die laufen undenkbar ist. „Manche Kinder hängen auch am Beatmungsgerät. Sie gehören zur absoluten Hochrisikogruppe“, sagt Geschäftsführerin Nadine Bauer. Der Verein habe gerade deshalb alle Hände voll zu tun. „Die Familien brauchen Unterstützung.“ Zum 1. November ist der Verein aus Gronau in die Homburger Straße in der Vilbeler Innenstadt umgezogen. „Wir können so mehr Präsenz zeigen und unsere Themen in den Vordergrund stellen“, sagt Bauer. Im neuen Büro gibt es deutlich mehr Platz, sowohl für Gruppentreffen als auch für Therapiestunden. 

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