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Philip Julius

Geschwisterkinder – Lebenskünstler

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Essay von Marian Grau

27. Juli 2002, 23:28 Uhr. Die Welt hat 156 Menschen mehr. Ich bin einer davon.

Wir können uns nicht aussuchen, in welche Welt wir geboren werden. Ich bin zeitgleich mit 156 weiteren Menschen geboren. Wir sind sozusagen zusammen hier auf dieser Welt aufgekreuzt – doch auf jeden von uns wartete eine vollkommen andere Welt; ein vollkommen anderes Leben. Niemand kann sich Eltern und Genetik, soziales Umfeld und Lebensstandard aussuchen. Geburt ist und bleibt Glücksspiel – und viele Kinder verlieren noch bevor sie überhaupt richtig zu leben begonnen haben. 125 der Kinder, die in derselben Minute geboren sind wie ich, wurden von ihren Eltern in einem Entwicklungs- oder Schwellenland in die Arme geschlossen. Sechs von uns haben ihre Geburt erst gar nicht überlebt.

Und was wurde aus mir? Die Welt, in die ich geboren werden sollte, kannte nur wenige Orte und Menschen; sie war klein und in alle Himmelsrichtungen begrenzt – ganz ähnlich wie die meines schwerbehinderten und lebensverkürzend erkrankten Bruders Marlon, der neben meinen Eltern an diesem Samstagabend im Juli 2002 auf mich wartete. Ich sollte das werden, was viele Menschen ein „Schattenkind“ nennen: ein kleiner Bruder, der im Schatten seines kranken Bruders aufwachsen und gnadenlos zurückstecken muss. Ich bin trotzdem ein Gewinner. Nein. Nicht trotzdem. Genau deswegen: Dies ist ein Plädoyer für das Leben mit Behinderung.

Hast Du schon einmal einen Kaktus in herkömmliche Blumenerde gepflanzt? Ein NoGo unter Gärtnern, ich weiß. Gewächse wie Kakteen brauchen doch Trockenheit und eine spezifische Umgebung. Die Blumenerde ist für dieses Gewächs völlig ungeeignet; die Pflanze, möchte man meinen, von vornherein dem Untergang geweiht. Meine Mutter hat neulich einen solchen Versuch unternommen und den Ableger einer Kaktuspflanze aus Mallorca zur Zimmerpflanze forciert.

Wenn der Bruder oder die Schwester schwer erkrankt oder behindert ist, geht es uns Geschwistern wie diesem Kaktus. Meine Eltern waren tagtäglich in Marlons Pflege eingespannt. Es war ihnen schlichtweg unmöglich, mir dieselbe Aufmerksamkeit zukommen zu lassen wie Marlons Krankheit sie von ihnen einforderte. Das Leben mit schwerkrankem Bruder und Sohn bedeutete aber auch über diesen Aspekt hinaus Verzicht: Unser Familienalltag kannte keine Ausflugstage; wir fuhren auch nicht ohne Weiteres in den Urlaub. Seit der Diagnose hatten sich für lange Zeit Unbeschwertheit, Sorglosigkeit und Leichtigkeit aus dem Leben meiner Eltern verabschiedet. An ihre Stelle trat für lange Zeit das allmächtige Gefühl der Angst: Die Ärzte gaben Marlom zwei Jahre zu leben. Jeder Tag konnte sein letzter sein.

Marlons Krankheit hat das Leben meiner Eltern auf den Kopf gestellt, um 180 Grad gewendet. Und ausgerechnet diese verkehrte Welt sollte der Nährboden für meine Kindheit werden. Ich sah mich in viel zu frühen Jahren mit dem Tod meines Bruders konfrontiert und war, wie der Kaktus auch, dazu gezwungen, in einer schwierigen, quasi nährstoffarmen Umgebung meine Wurzeln zu schlagen.

Mit neuneinhalb Jahren stand ich am Grab meines großen Bruders, von da an also Einzelkind. Es wäre schlichtweg gelogen zu sagen, dass meine Kindheit eine leichte war. Aus den für ein Kind und eine Familie eigentlich unzumutbaren Herausforderungen, die Marlons Krankheit über uns hereinprasseln ließ, auf eine schlimme Kindheit zu schließen, wäre in meinen Augen allerdings genauso falsch. Denn wer das Leben nicht anders kennt, der lernt mit den härtesten Umständen umzugehen, sie zu überkommen und – mehr noch: an ihnen zu wachsen.

Meine besten Freunde habe ich durch die Kinderhospizarbeit kennengelernt. Sie sind alle Geschwister eines behinderten oder bereits verstorbenen Kindes. Wir sind ein bunter Haufen, doch uns Geschwisterkinder eint ein überdurchschnittlich hohes Maß an Selbstständigkeit und Empathie, an Reflexionsvermögen und Lebensfreude. Unsere Brüder und Schwestern haben uns, jeder und jede für sich, unvergessliche Lehren fürs Leben auf den Weg gegebenen. Dank ihnen haben wir einen Blick auf das Leben und das Wesentliche wie ihn manch Achtzigjähriger noch nicht auf dem Kasten hat. Die Krankheit des Geschwisterkindes war und ist für uns größte Herausforderung und größte Bereicherung zugleich. Wir sind das beste Beispiel dafür, dass man auch im Schatten reifen kann.

Was aus der Kaktee meiner Mutter wurde, fragst Du Dich? Sie hatte es alles als andere leicht; oft genug hat sie – mangels Wurzeln – den Halt verloren. Jetzt steht der Kaktus in voller Pracht und es scheint so, als sei der im Durchmesser 5cm messende Tontopf mit seiner Blumenerde das beste erdenkliche Zuhause für den mallorquinischen Kaktus. Bald wird er zum ersten Mal blühen und damit aller Welt zeigen, wie außergewöhnliche Situationen Pflanzen, und junge Menschen, zu Lebenskünstlern werden lässt.

Geschwisterkinder

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