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Philip Julius

Stellungnahme RISG

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Wir begrüßen, dass die Bundesregierung mit dem neuen RISG (Reha-und Intensivpflege-Stärkungsgesetz) das Leistungsrecht zur medizinischen Rehabilitation und zur außerklinischen Intensivpflege neu regeln möchte. Diese Reform fördert den Gedanken der Rehabilitation und sieht vor, die Eigenbeiträge bei stationären Pflegeaufenthalten zu senken. Damit wird deutlich, dass es für Menschen, die auf außerklinische Intensivpflege angewiesen sind, kein Kriterium ist, dass die Versorgung zuhause günstiger wäre als in einem Heim. Damit wird sicherlich erreicht, dass die ‚Betroffenen‘ sich frei von finanziellen Erwägungen für die bestmögliche Versorgung entscheiden können.

Den aktuellen Referentenentwurf halten wir allerdings für ungeeignet, dieses Ziel zu erreichen. Vielmehr stellt der Entwurf in wichtigen Teilen einen Rückschritt dar. Aus unserer Sicht werden wichtige Kriterien zur Sicherung des Wohles von Menschen, ganz besonders jedoch von Familien mit schwer erkrankten Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen nicht beachtet.

Im Folgenden nehmen wir spezifisch Stellung zu den Folgen für unser ‚Klientel‘. Grundsätzlich möchten wir voranstellen, dass das Grundrecht des Menschen, seinen Aufenthaltsort zu bestimmen, ein unantastbares Menschenrecht ist. Menschen mit körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderungen vorschreiben zu wollen, wie und wo sie am besten gepflegt werden, verstößt gegen dieses Menschenrecht. Im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe des SGB VIII ist längst Usus, junge Menschen bis zum Alter von 27 Jahren noch in seinem Geltungsbereich zu sehen. Kinder und junge Menschen, die eine lebensverkürzende Erkrankung haben, und auf Intensivpflege angewiesen sind, sollten selbstverständlich ebenso unter diesem Schutzbereich erfasst sein. Der Referentenentwurf spricht von einer Altersgrenze von 18 Jahren mit einer Übergangsfrist von 3 Jahren. Viele Jahre haben wir im Bereich der Verhandlungen zum §39a SGB V darum gekämpft, damit auch junge Menschen, die über 18 Jahre alt und lebensverkürzend erkrankt sind, die Möglichkeit haben, eine Kinderhospizversorgung in Anspruch zu nehmen. Sie haben das Recht, sich für oder gegen eine Versorgung im Kinderhospiz zu entscheiden. Aber es ist ihr Wahlrecht, das sofern sie es nicht selbst wahrnehmen können, durch ihre gesetzlichen Vertreter wahrgenommen wird. Wir gehen davon aus, dass die Angehörigen, die Betreuer und Eltern stets das Beste für ihr Kind, egal welchen Alters, im Sinne haben. Es ist zu befürchten, dass die Absicht, mit diesem Referentenentwurf etwaigem Missbrauch und mangelnder Versorgungsqualität entgegenzuwirken, die ‚Betroffenen‘ selbst unter Generalverdacht gestellt werden, statt die ‚schwarzen Schafe‘ herauszufiltern und weiterhin darauf zu bauen, dass im Grunde die große Mehrheit der Versorger nur das Beste für den ‚Betroffenen‘wünscht. Wir schöpfen aus der Erfahrung mit betroffenen Familien und möchten explizit hervorheben, dass diese die begrenzte Zeit mit ihrem Kind oder jungen Erwachsenen bestmöglich und voller Lebensqualität leben wollen. Sie müssen bereits heute mit größtem Einsatz die zahlreichen Hürden, angefangen vom Kampf um Bewilligungen von Kassen- und Pflegeleistungen bis hin zum Pflegekräftemangel, überwinden um dieses Ziel zu erreichen. Der Referentenentwurf in dieser Form wird den Bedürfnissen der Kinder und jungen Erwachsenen in keinster Weise gerecht. Kinder und junge Menschen mit außerklinischen Intensivpflegebedarf brauchen eigene Vereinbarungen, die sich mit deren Bedürfnissen – die sehr unterschiedlich zu jenen von Erwachsenen sind – spezifisch auseinandersetzen. Wir fordern deshalb, eine eigene gesetzliche Regelung für Kinder und junge Erwachsene bezüglich der Kranken- und Intensivkrankenpflege.

„Zumutbarkeit“ im Ermessensspielraum der Krankenkassen

Der Gesetzesentwurf soll die Fälle in das Sozialgesetzbuch aufnehmen, in denen bei Versicherten „einbesonders hoher Bedarf an Behandlungspflege“ besteht. Dies liegt vor bei besonderer Intensität oder Häufigkeit der notwendigen Pflege oder wenn der Versicherte beatmet werden muss, was sehr überwachungsintensiv ist. Der Entwurf besagt, dass die Umsetzung des Anspruchs auf außerklinische Intensivpflege regelhaft in vollstationären Pflegeeinrichtungen oder in entsprechenden Wohneinheiten vorgesehen ist. In dieser angestrebten Regelung sehen wir eine massive Gefährdung der Teilhabefähigkeit und Selbstbestimmung schwerstkranker Menschen.

Die „Ausnahmeregelung“ für Kinder und Jugendliche bewerten wir als völlig unzureichend.

Nach dem Referentenentwurf ist (durch die Kostenträger) zu prüfen, ob das Herauslösen aus der Familie und die Einweisung in ein Heim oder eine Wohngruppe „zumutbar“ sind. Die Beurteilung der Zumutbarkeit wird an den „persönlichen, familiären und örtlichen Umständen“ festgemacht. Dieswird in der Realität bedeuten, dass der Versicherte bzw. dessen Familie die (sehr aufwändige und belastende) Beweislast dafür tragen wird, dass die Intensivpflege zu Hause für den Patienten die richtige Lösung ist.

Für Versicherte vor Vollendung des 18. Lebensjahres sieht der Referentenentwurf vor, dass eine Unterbringung außerhalb des eigenen Haushalts „in der Regel nicht zumutbar“ sein soll. Dies ist grundsätzlich zu begrüßen, doch muss der Gesetzentwurf hier noch deutlicher machen, dass das Entscheidungsrecht der Eltern als Erziehungsberechtigte in keinem Fall eingeschränkt werden darf.

Nach vollendetem 18. Lebensjahr bleibt den bislang häuslich versorgten Versicherten eine Frist von drei Jahren, in der von einer Unzumutbarkeit ausgegangen wird. Aus Sicht des BVKH ist es eine unerträgliche Belastung betroffener Familien, dass nach Ablauf dieser Frist eine mögliche Einweisungin eine Pflegeeinrichtung „droht“. Lebensverkürzende Erkrankungen bewirken bei Kindern und Jugendlichen eine oft extreme Entwicklungsverzögerung. Unabhängig vom tatsächlichen Alter des Kindes sollte das neue Gesetz deshalb das Urteil und die Wünsche der Eltern/des Versicherten selbst stärken.

Der Vorschlag zur Neuregelung widerspricht all unseren Erfahrungen mit Eltern schwerstkranker Kinder. Viele Eltern sind Experten für die (oft sehr seltenen) Erkrankungen ihrer Kinder und müssen in Krisen schnelle medizinische Entscheidungen treffen. Auch wollen Eltern und Geschwister mit lebensverkürzend erkrankten Kindern möglichst viele Momente gemeinsam in bestmöglicher Lebensqualität verbringen, da sie nie wissen, wie viel Zeit ihnen zusammen noch bleibt. Viele Eltern wollen, egal wie alt das Kind ist, für dieses bestmöglich sorgen und ihrem Kind jederzeit nah sein, wenn es lebensbedrohliche Krisen hat. Dies können sie nur dann, wenn sie über den Wohnort und die Wohnform bestimmen können – also ob ihr Kind zu Hause, in einer Intensiv-WG oder als junger Mensch selbstbestimmt mit Assistenz leben kann. Der Referentenentwurf entzieht schwer erkrankten jungen Menschen oder den Eltern als Betreuer das Recht, den Aufenthalt und den Ort des Lebens selbst zu bestimmen.

Auch sehen sehr kritisch, dass die Leistungen der außerklinischen Intensivpflege künftig (nur) in den genannten vollstationären Einrichtungen oder Wohneinheiten erbracht werden sollen. In der derzeit geltenden Regelung ist formuliert, dass auch eine Leistungserbringung in Kindergärten, Schulen, Werkstätten usw. möglich ist. Diese ausdrückliche Aufnahme solcher „geeigneter Orte“ im Gesetzestext halten wir für unabdingbar, um Versicherten eine größtmögliche Teilnahme am sozialen Leben und an öffentlichen Angeboten auch künftig zu gewährleisten.

Verschärfung des Mangels an Pflegediensten zu erwarten

Der Referentenentwurf hat klar zum Ziel, die häusliche Intensivpflege zu reduzieren und den bislanggeltenden Grundsatz „ambulant vor stationär“ zu entkräften. Sollte diese Möglichkeit für Schwerstkranke jedoch zur Ausnahme werden, möchten wir vor der gefährlichen Entwicklung warnen, dass es immer weniger Anbieter spezialisierter ambulanter Intensivpflege geben wird. Schon jetzt ist es traurige Realität, dass viele Eltern keinen geeigneten, auf Kinder und Intensivpflege spezialisierten Dienst finden können, der sie im benötigten Maß bei der Versorgung ihres Kindes unterstützt. Mit der Umsetzung des Referentenentwurfs würde diese Belastung weiter erhöht. Damit würde Versicherten, die in ihrem familiären Umfeld bleiben könnten und möchten, diese Möglichkeit zusätzlich erschwert.

Spezielle Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen berücksichtigen

Wir möchten außerdem darauf hinweisen, dass der Gesetzesentwurf noch weiterer Ausführungen bei der Definition „geeigneter“ Einrichtungen bedarf, in denenKinder/Jugendliche außerklinische Intensivpflege in Anspruch nehmen können. Wie auch bei Aufenthalten in Hospizen, der Inanspruchnahme eines ambulanten Hospizdienstes oder palliativer Versorgung ist hier besonders darauf zu achten, den speziellen Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen noch mehr Rechnung zu tragen. Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene brauchen eigene, für sie ausgelegte Pflegeeinrichtungen!

Wir als Mitglieder des Bundesverband Kinderhospiz bittet deshalb dringend um eine Überarbeitung des RISG-Entwurfs und bietet gerne seine Fachkompetenz an, um Einblick zu geben in die sehr speziellen und sensiblen Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen mit lebensverkürzenden Erkrankungen, die in dem vorgeschlagenen Gesetzesentwurf nicht genügend berücksichtigt werden.

Im weiteren Verfahren werden wir uns für die Interessen von Familien mit schwerstkranken Kindern und für unsere Mitgliedseinrichtungen, die diesen Familien Hilfe bieten, einsetzen.

Sabine Kraft und Irene Müller
stellvertretend für die Mitgliedsorganisationen des Bundesverbandes Kinderhospiz

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