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Erwachsene im Kinderheim – Fehlbelegung letzter Ausweg

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Erwachsene im Kinderheim – Fehlbelegung letzter Ausweg

Das Haus St. Martin ist eine Wohn- und Fördereinrichtung für mehrfach schwerstbehinderte Kinder und Jugendliche. Doch viele können nicht ausziehen. Denn wenn sie erwachsen werden, fehlen passende Anschlusseinrichtungen. Das ist seit Jahren so. Nun gründet die Einrichtung eine Übergangswohngruppe. Von einer Lösung will dort dennoch niemand sprechen.

© Haus St. Martin Ingelheim
© Haus St. Martin Ingelheim

Der Aufwand ist beeindruckend, mit dem im Haus St. Martin im rheinland-pfälzischen Ingelheim schwer behinderte junge Menschen versorgt werden. Eine Fachkraft betreut pro Schicht drei Bewohner – ein Personalschlüssel, der in vergleichbaren Erwachseneneinrichtungen so gut wie nie erreicht wird. Therapeuten arbeiten im Haus. In den Gruppenräumen hängen gut ausgefüllte Listen (Therapiepläne), wann welches Kind zur Einzeltherapie geht. Im Keller gibt es ein Schwimmbad (Bewegungsbad) mit einem festangestellten med. Bademeister. So kann jedes Kind mehrmals in der Woche im warmen Wasser entspannen, sich bewegen oder bewegt werden – ein Luxus verglichen mit anderen Einrichtungen, doch existenziell für Menschen, die sich selbst nicht bewegen können. „Fachgerechte Pflege und individuelle Förderung steht/en bei uns im Vordergrund“, sagt Stefan Lorbeer, der Leiter der Einrichtung.

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© Haus St. Martin Ingelheim

Die Nachfrage nach Plätzen im Haus St. Martin ist entsprechend groß. Doch es werden seltener Plätze frei als ursprünglich geplant: Denn so mancher Bewohner bleibt länger als vorgesehen. Denn eigentlich müssen die jungen Erwachsenen im Alter von 18 Jahren das Haus verlassen. Doch momentan sind vier Bewohner volljährig, der Älteste ist 24 Jahre alt. Der Grund: Eine Anschlusseinrichtung zu finden, in der die Betreuung ähnlich gut ist wie im Haus St. Martin, ist meist unmöglich. „Die Eltern wissen, dass alles, was danach kommt, schlechter ist“, sagt Stefan Lorbeer, der Leiter des Haus St. Martin. Wenn Jugendliche mit 18 Jahren das Haus verlassen, sei das selten eine Lösung in ihrem Sinne, ergänzt Christina Hansen, die Pädagogische Leiterin im Haus St. Martin. „Es ist eine Lösung im Sinne einer geringeren Fehlbelegung.“ In schlechter ausgestatteten Anschlusseinrichtungen ginge oft verloren, was hier in St. Martin aufgebaut wurde.
Die Situation steht exemplarisch für einen Missstand, auf den der Philip Julius e.V. hinweisen will: Eltern finden keine adäquate Anschlusseinrichtung für ihre sehr schwer behinderten Kinder. Zu hoch ist der Betreuungsaufwand: So können von 47 Bewohnern im Haus St. Martin nur wenige laufen und nur zwei sprechen. Die meisten brauchen auf ihren Körper abgestimmte Rollstühle, mit individuellen Stützen und Polstern. Die wenigsten werden je in einer Behindertenwerkstatt arbeiten können. Viele werden über Sonden ernährt. Wenn sie schlafen, sind sie an Geräte angeschlossen, die ständig den Sauerstoffgehalt im Blut prüfen.

© Haus St. Martin Ingelheim
© Haus St. Martin Ingelheim

Volljährige, die hier bleiben, hätten im Prinzip Glück, sagt Stefan Hohmann, Vorstand des Caritasverbandes Mainz e.V., dem Träger der Einrichtung. Er nennt es „positive Fehlbelegung“ – im Gegensatz zur üblichen Fehlbelegung, wenn junge, schwerstbehinderte Menschen im Altenheim, einer Klinik oder der Psychiatrie leben. Das ist eher die Regel als die Ausnahme. Wer hingegen als Erwachsener im Haus St. Martin bleibt, profitiert von der guten Ausstattung, dem relativ hohen Personalschlüssel und den guten Therapiemöglichkeiten.
Heimleitung und Träger arbeiten deshalb an einer eigenen Lösung. Es soll nun eine Übergangswohngruppe geben, die Volljährige auffängt, bis sie ein neues Zuhause gefunden haben. Im Dachgeschoss des Hauses St. Martin haben bereits die Umbauten begonnen. Im nächsten Frühjahr soll die Wohnung mit fünf Einzelzimmern fertig sein.
Es ist ein erster Schritt, mehr aber auch nicht: Zum einen ist die Zahl der Plätze auf fünf Einzelzimmer begrenzt. Dabei müssten im Jahresschnitt zwei bis drei junge Erwachsene das Haus St. Martin verlassen. Zum anderen kommen nur die „fittesten“ Bewohner für die Übergangsgruppe in Frage: „Wohnen dort setzt voraus, dass man weiß, wo man wohnen will“, sagt Lorbeer. Spätestens im Alter von 27 Jahren sollen sich die Erwachsenen der Übergangsgruppe nämlich für individuelle Wohnformen, beispielsweise in gemischten Wohngemeinschaften mit ambulanter Unterstützung, entscheiden. Das setzt eine Willensentscheidung voraus, die von den meisten Kinder und Jugendlichen im Haus St. Martin nie wird erbracht werden können. Jene also, die am schwersten behindert sind, bleiben zurück. „Wir schaffen keine Lösung. Es ist nur ein kleiner Schritt und nur für einen Teil unserer Bewohner.“

© Haus St. Martin Ingelheim
© Haus St. Martin Ingelheim

Eine grundsätzliche Lösung ist nicht in Sicht. Neue Heimplätze werden kaum noch genehmigt, seit Inklusion – also die Teilhabe eines jeden auch noch so schwer behinderten Menschen am gesellschaftlichen Leben – vorrangiges Ziel ist. Das geht aber an den Bedürfnissen der Menschen vorbei, solange nicht die pflegerische und therapeutische Grundversorgung gewährleistet ist. Lorbeer und Hohmann kennen alle Erwachseneneinrichtungen in Rheinland-Pfalz, die für die Bewohner im Haus Martin in Frage kommen. Sie sind schnell aufgezählt, es sind gerade mal drei – und die haben lange Wartelisten. „Trotzdem sieht der Landkreis den Bedarf nicht“, sagt Lorbeer. Unter diesen Umständen ist und bleibt „positive“ Fehlbelegung wohl der einzige Ausweg auf Zeit. Ein Ausweg, der die betroffenen Familien in großer Ungewissheit lässt.

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