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Philip Julius

„Erzähl doch mal …. Angela!“

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„Erzähl doch mal …. Angela!“

Alicia Meyer-Geiger_Erzähl Doch Mal Angela

Angelas Familie ist herzlich, laut, chaotisch. Immer mittendrin ist die kleine Alicia, die gerade 6 Jahre alt geworden ist. Alicia ist das Nesthäkchen der Familie, Autistin und schwerbehindert. Für die selbst chronisch kranke Angela ist es ein dauerhafter Spagat allen Bedürfnissen gerecht zu werden, den sie jedoch mit viel Herz und Humor meistert.
Die Rubrik „Erzähl doch mal…!“ erscheint monatlich auf unserer Homepage und stellt jeweils eine Familie mit einem besonderen Kind vor. Hier werden individuelle Geschichten erzählt und Wünsche und Ziele geteilt, die alle in erster Linie eines tun sollen, nämlich Mut machen.

Angela © Angela Meyer-Geiger

Wie sieht Deine Familie aus?
Meine Familie besteht aus meinem Mann Sven (36), mir (40), Ayleen (15), Noel (14) und unserem Nesthäckchen Alicia (6). Außerdem gibt es noch Omas, Opas, Tanten und Neffen, die uns tatkräftig unterstützen.
Wann und wie hast Du von der Behinderung Deines Kindes erfahren?
Als Alicia 8 Monate alt war, merkte ich, dass etwas nicht so ist, wie es sein sollte. Da ich ja durch meine Großen einen direkten Vergleich hatte, rief ich bei unserem Kinderarzrt an und schilderte ihm meine Beobachtungen. Ohne mich einzubestellen beruhigte man mich am Telefon. Bei der U5 war ja schließlich alles bestens gewesen.
Bei der U6, Alicia war inzwischen fast ein Jahr alt, schaute der Arzt dann mit grossen Augen. Sie lag nur auf der rechten Seite, konnte nicht sitzen, kein Wort reden. Wir bekamen sofort eine Überweisung ins Sozialpädiatrischen Zentrum, dann zur Krankengymnastik und zur Frühförderung. Nach einigen weiteren Untersuchungen sprach man von autistischen Zügen. Anfang 2014 wurde uns dann die Diagnose gestellt: Frühkindlicher Autismus. Als ich es schwarz auf weiss vor mir liegen hatte, da musste ich erstmal weinen. Doch dann sagte ich mir: „Angela, bist du doof ? Du hast doch schon vorher gewusst, dass deine Tochter besonders ist. Eine Diagnose ändert daran nichts!“

Alicia © Angela Meyer-Geiger

Inwiefern ist Dein Kind beeinträchtigt und wie gehst Du damit um?
Alicia ist in allem beeinträchtigt. Sie kann nicht sprechen, trägt Windeln, kann nicht allein essen und man muss sie an- und ausziehen. Sie kennt keine Gefahren, kann keine Treppen herunter gehen und neigt dazu, sich selbst zu verletzen. Für uns heißt das, dass wir sie keine Minute aus den Augen lassen können.
Wie kommen Eure anderen Kinder mit der besonderen Familiensituation zurecht?
Ayleen ist fast 16 und kümmert sich um ihre eigenen Intressen und ihren Freund. Aber sie liebt ihre Schwester sehr und akzeptiert sie so wie sie ist. Darüber hinaus ist sie wie mein Mann. Sie macht alles, was sie beschäftigt, mit sich selbst aus und mag nicht groß darüber reden.

Familie Geiger © Angela Meyer-Geiger

Noel und Alicia haben ein inniges Verhältnis. Noel suchte den Namen heraus und schon in der Schwangerschaft hat man eine Verbundenheit zwischend den beiden Gespürt. Wenn Noel die Hand auf mein Bauch legte, reagierte Alicia. Für Noel war es sehr schlimm, als wir ihm sagten, dass seine Schwester besonders ist, doch letztlich hat sich für ihn nichts geändert. Er sagte seinen Kumpels, dass er eine behinderte Schwester hat und entweder sie akzeptierten es, oder sie konnten ihm gestohlen bleiben.
Wie sieht Dein Alltag aus?
Morgens um 6 Uhr klingelt der Wecker für Ayleen, kurz danach für Noel und Alicia. Meistens ist Alicia dann schon wach. Zuerst bereite ich das Frühstück vor.
Dann heisst es Alicia, waschen, ihr die Zähne putzen und sie für den Kindergarten anziehen. Wenn Noel noch zuhause ist , trägt er seine Schwester die Treppen zum Wohnzimmer hinunter. Und wenn ihr Rucksack mit den Orthesen, den Schuhen und der Wahrnehmungsweste von 3,5 kg noch im Flur steht, nimmt er ihn mit hinunter an den Eingang.
Eine besondere Herausforderung ist das Haare kämmen. Das läuft in etwa so ab, dass Alicia im unteren Stockwerk herum rennt und Mama mit der Bürste und dem Haargummi hinterher. Um 7:35 Uhr heisst es Schuhe und Jacke anziehen. Ist sie dann endlich fertig, muss ich sie mit ihren 32 kg die Treppen herunter tragen und meist noch dazu den Rucksack, die Vespertasche und Montags noch ihre Badetasche. Gemeinsam laufen wir bis zur Kirche und warten dort, bis sie vom ASB-Bus abgeholt wird, der sie nachmittags auch wieder nachhause bringt. Donnerstags hat sie vor dem Kindergarten noch Logopädie, Freitags Krankengymnastik, wohin ich sie begleite und dann selbst in den Kindergarten bringe.
Alicia schläft in der Nacht nur wenige Stunden. Sie braucht erstaunlich wenig Schlaf, was für ihre Diagnose typisch ist. Daher lege ich mich häufig am Vormittag noch etwas hin, da ich nachts kaum zu ausreichend Ruhe komme.
Dann wartet der Haushalt auf mich. Der Hund will gassi gehen und ich habe selbst häufig noch Arzttermine. Mittags wird gekocht und oft nebenher telefoniert.
Wenn Alicia am Nachmittag nachhause kommt, hole Ich sie vorne an der Kirche wieder ab. Taschen in die eine, Alicia an die andere Hand und los geht’s. Doch weit kommen wir nicht, denn nach paar Metern legt sie sich auf den Boden. Egal ob es regnet, schneit, oder die Sonne scheint. Sie will nicht weiter laufen. Also muss ich sie tragen. Fix und alle komme ich nach den wenigen hundert Metern zuhause an. Dort Treppen wieder hoch, alle Jacken ausziehen und für Alicia Mittagessen warm machen. Nach dem Essen wird sie frisch gewickelt und wenn in der Zeit, in der ich danach die Windel entsorge und mir die Hände wasche, die Küchentür nicht zu ist, finde ich Alicia in der Küche wieder. Gern räumt sie den Kühlschrank aus oder klaut das Nutellaglas, schleicht sich in ihr Spielzimmer und schmiert alles mit Nutella voll. Dann besteht der restliche Tag aus putzen, Kind baden und frisch anziehen. Alicia liebt Wasser. Ist die WC-Türe auf, spielt sie gern mal in der Kloschüssel, oder auch in der Kaffeetasse. Passt man nicht auf, dann wirft sie Teller und Tassen umher. Man kann sie also wirklich keine Sekunde aus den Augen lassen. Hat Sie kein Nutella Glas erwischt, male ich mit ihr, oder versuche, mit ihr in Kontakt zu kommen und zu spielen. Wenn wir mit Autos spielen geht das ganz gut, oder beim Singen und Tanzen. Wenn sie gut gelaunt ist, gehen wir auch manchmal noch eine Runde spazieren.
Abends gegen 17 Uhr will Alicia immer die Straße vorlaufen, ihren Papa entgegen gehen. Ganz dramatisch ist es, wenn er sich verspätet. Dann beginnt sie, sich zu schlagen und wird zornig.
Abends will sie meist nur bei ihrem Papa sein. Sie ist ein regelrechtes Papa-Kind. Papa muss sie abends füttern, baden und bettfertig machen. Ich bin dann fürs Singen zuständig. Ist das erledigt, wird sie wiederum von Papa ins Bett gebracht. Ich gebe ihr nurnoch einen Gute-Nacht-Kuss.
Häufig jedoch spielt sie dann noch stundenlang im Bett, hüpft Trampolin im Bett oder schlägt mit ihrem Oberkörper oder Füßen gegen die Türen von ihrem Pflegebett. Das macht solche Schläge, dass sogar die Grossen wach werden. Also muss man sie aus dem Bett holen.
Im Prinzip gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten: entweder sie schläft abends zügig ein, ist dann aber um 02:00 Uhr wieder hellwach oder sie schläft nach Mitternach erst ein und steht dafür um 04:00 wieder auf. Häufig ist sie dann zur normalen Aufstehenszeit gegen 6:00 Uhr so müde, dass sie am liebsten wieder einschlafen würde. Aber das geht ja nicht, denn dann ist es Zeit für das normale Tagesprogramm. Wir hoffen dann, sie schläft in der folgenden Nacht besser, aber das ist reines Wunschdenken. Auf die Dauer zehrt das sehr an einem.
Dazu gibt es immer wieder mal Tage, an denen Alicia von Morgens bis spät Abends nur am jammern ist. Schlechte-Laune-Tage eben. Diese Tage sind sehr nervenaufreibend und anstrengend, denn egal was man an diesem Tag versucht um die Laune zu bessern, sie lehnt es konsequent ab.
Meine Abende gehen meist für Papierkram drauf. Anträge und Widersprüche schreiben, Stiftungen anschreiben um Dinge zu finanzieren, die die Kasse nicht übernimmt, wie z.B. eine Delfintherapie, Emails schreiben und so weiter.
Eine Freundin der Familie, schrieb auf Alicias Webseite einen schönen Bericht darüber, wie sie die Besuche bei uns empfindet. Ja, genau so ist es…
Was macht Dich im Alltag glücklich? Und welche Momente sind hingegen besonders schwer?
Glücklich macht mich, wenn ich sehe, dass meine Kinder glücklich sind. Wenn ich angelächelt oder von Alicia in die Arme genommen werde. Wenn sie mir einen Kuss gibt. Das macht sie nur sehr selten und nur, wenn sie es selbst möchte. Überglücklich macht mich auch jeder noch so kleine Fortschritt von ihr.
Schwer im Alltag ist allein das Gewicht von Alicia, das ich sehr häufig tragen muss, wenn sie nicht laufen möchte oder kann. Oder wenn sie um sich schlägt und wir sie körperlich bändigen müssen. Das geht mir sehr nahe.

Alicia © Angela Meyer-Geiger

Schwer ist es für mich, wenn ich auf unsere Gesellschaft blicke. Wenn ich mit der Maus zum Beispiel auf dem Spielplatz bin oder wenn wir mit ihr Schlitten fahren gehen, dann freut sie sich oft riesig darüber, andere Kinder zu sehen und möchte Kontakt aufnehmen. Häufig passiert es dann, dass andere Eltern ihre Kinder wegnehmen, zügig weitergehen, so tun als wären wir nicht da…Das macht mich traurig und tut sehr weh. Klar gestehe ich den Menschen Berührungsängste zu, denn Behinderung verunsichert. Keine Frage. Doch ich würde mir wünschen, die Leute würden mehr fragen statt zu flüchten, als ob Alicias Behinderung ansteckend wäre. Ich erzähle gern von meiner Tochter und zeige auch gern anderen Kindern, wie man mit ihr spielen kann.
Wer betreut Dein Kind? Wie habt Ihr die Pflege organisiert?
Mein Mann und ich betreuen und pflegen Alicia gemeinsam. Ich übernehme die Tagschicht, während mein Mann arbeitet. Er füttert sie abends und bringt sie zu Bett. Die Nächte teilen wir, je nachdem, wann und wie Alicia schläft.
Wir hatten auch eine sehr nette Betreuerin, die einmal in der Woche bei Alicia war, doch sie zog leider vor kurzem weg. Eine neue Betreuerin haben wir bereits gefunden, doch die Bezahlung ist noch nicht geregelt. Die Pflegekasse übernimmt die Leistung nicht und selbst bezahlen können wir sie nicht.
In Notfällen, oder wenn mal etwas dringendes ansteht, dann greifen uns auch Oma, Opa und Tanten unter die Arme.
Was machst Du beruflich? Und wie sieht Dein Arbeitsalltag aus?
Ich kann leider nicht mehr arbeiten und bin Frührentnerin, da ich selbst chronisch krank bin. Ich habe Asthma, Osteopenie, Rheuma, Arthrose und Arthritis. Durch dieses Krankheitsbild kann ich meine linke Hand leider komplett nicht mehr benutzen. Sie ist verformt und steif. Hinzu kam vor kurzem noch eine Krebsdiagnose, weswegen ich regelmäßig ins Krankenhaus muss.

Alicia © Angela Meyer-Geiger

Was bedeutet Urlaub für Euch?
Das letzte Mal bewusst einfach nur im Urlaub waren wir 2011. Da waren wir am Brombach See. Unser Traum von Urlaub wäre ohne Termine alle gemeinsam an einem schönen Ort mit viel Wasser zu sein, keine Verpflichtungen, aber viel Spaß zu haben und nicht kochen zu müssen.
Wo habt Ihr Euren schönsten Urlaub verlebt?
2014 waren wir alle gemeinsam in der Türkei, wo Alicia eine Delfintherapie hat machen können. Wir mussten uns um nicht viel kümmern, haben viel Zeit in der Sonne am Pool verbracht, einfach die Seele baumeln lassen. Alicia hat die meiste Zeit am oder im Wasser verbracht und ganz tolle Fortschritte durch die Therapie gemacht.
Welche Wünsche und Pläne habt Ihr für die Zukunft?
Zuallererst wünsche ich mir, dass es Alicia durch weitere Therapien irgendwann gelingen wird, selbständig zu leben.
Ich wünsche mir Zeit, die wir gemeinsam genießen können.
Vielleicht könnte eine Mutter-Kind-Kur eine Möglichkeit dazu sein. Das geht jedoch nur mit einer passenden Einrichtung, die sich auf Autisten einstellen kann, beispielsweise mit Autismustherapeuten oder zumindest auf diesem Feld erfahrenen Betreuern. Das gäbe auch mir die Möglichkeit Kraft zu tanken.
Und ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass die Gesellschaft sich weiter öffnet gegenüber behinderten Kindern. Dass sie unsere besonderen Schätze nicht mehr an den Rand schiebt, sondern sie akzeptiert, toleriert und ihnen die Hand reicht.
Miteinander ist doch viel schöner als gegeneinander.
Sie haben Interesse, Ihre Geschichte mit uns zu teilen? Dann freuen wir uns auf Ihre Kontaktaufnahme unter info@philip-julius.de. 

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