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Philip Julius

Erzähl doch mal… Silvana

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Der kleine Alessio macht das Glück der Patchworkfamilie von Silvana und Maurizio komplett. Er ist ein aufgeweckter und fröhlicher kleiner Junge, der Abenteuer erlebt und seine großen Brüder anhimmelt. Doch Alessio leidet an einer seltenen Krankheit namens Tay Sachs und Sandhoff, die bei ihm im Alter von zwei Jahren ausbricht. Von dort an entwickelt sich Alessio rückwärts. Er verlernt alle erworbenen Fähigkeiten, ist wieder auf dem Stand eines Kleinkindes. Für Mutter Silvana ist das eine immense Belastung.
Die Rubrik „Erzähl doch mal…!“ erscheint monatlich auf unserer Homepage und stellt jeweils eine Familie mit einem besonderen Kind vor. Hier werden individuelle Geschichten erzählt und Wünsche und Ziele geteilt, die alle in erster Linie eines tun sollen, nämlich Mut machen.

PJeV: Wie sieht Deine Familie aus?
Silvana: Unsere Familie ist gelebtes Patchwork. Sie besteht besteht neben meinem Mann Maurizio und mir aus zwei Söhnen, die ich mit in unsere Ehe gebracht habe, und einem Sohn, den mein Mann mitgebracht hat. Zudem haben wir noch einen gemeinsamen Sohn. Familie Cilli, das sind somit Silvana (43), Maurizio (46), Danilo (23), Bijon (15), Guiliano (13) und Alessio (7).
Wir wohnen in einem kleinen, gemieteten Haus in Detmold Heidenoldendorf, das aber nur zu viert. Mein ältester Sohn Danilo ist vor kurzem ausgezogen und wohnt jetzt bei Oma im Haus. Guiliano lebt bei seiner Mutter.
Wann und wie hast Du von der Behinderung Deines Kindes erfahren?
Alessio war knapp eineinhalb Jahre alt, da bemerkte ich, dass er immer wackeliger auf den Beinen wurde statt sicherer.
Ich ging mit ihm zum Kinderarzt und erzählte diesem von meinen Beobachtungen, aber man vertröstete mich mit den Worten „das wird schon noch!“.
Doch es wurde nicht besser, ganz im Gegenteil. Es wurde schlimmer und Alessio fiel immer öfter hin. Er lief wie auf rohen Eiern.

Alessia und Silvana kuscheln © Silvana Cilli

Im Juli 2014, da war Alessia schon knapp drei Jahre alt, wurde auf Nachdruck meinerseits dann endlich ein MRT gemacht. Doch das Ergebnis war unauffällig. Wir sollten abwarten, hieß es, und beobachten. Und das taten wir dann auch.
Gleichzeitig war ich am verzweifeln und musste mit ansehen, wie mein Kind sich veränderte. Alessio verlernte nach und nach seine erlernten Fähigkeiten. Ich war mit der Welt fertig und lief von Arzt zu Arzt, doch niemand konnte uns helfen. Es gab einfach keine klare Diagnose. Keine Symptome, die man sofort eindeutig einem Krankheitsbild hätte zuordnen können.
Im September 2015 sind wir nach Göttingen in die Augenklinik gefahren und dort stellte man einen kirschroten Fleck hinter Alessios Auge fest. Schon dort wusste ich, das hat nichts Gutes zu bedeuten. Ab diesem Zeitpunkt lagen meine Nerven endgültig blank.
Unser Kinderneurologe in Detmold nahm daraufhin Blut ab und knapp drei Wochen später bekamen wir die niederschmetternde Diagnose: Tay Sachs und Sandhoff GM2, spätinfantile Form. Der lapidare Kommentar des Arztes war: „Geniessen Sie die Zeit mit Ihrem Sohn, sie wird begrenzt sein.“
Zunächst hatten wir Schwierigkeiten damit, zu akzeptieren, dass es um uns geht. Dass unser Kind so schwer krank ist. Dass man ihn nicht wird heilen können. Dass er bald sterben wird. Schließen wir die Augen, dann ist er noch immer ein süßes Kleinkind, das mit dem Arzt schäkert, der ihm gerade das Todesurteil verhängt hat.
Unser Sohn wird bald sterben und es gibt nichts, was wir tun können.
Inwiefern ist Dein Kind beeinträchtigt und wie gehst Du damit um?
Alessio ist sehr schwer beeinträchtigt. Er kann nichts mehr allein. Weder stehen noch sitzen noch sich drehen. Auch essen kann er nicht. Daher wird er durch eine PEG Sonde mit Nahrung versorgt. Außerdem hat er eine schwere Verkrümmung der Rückgrates, starke Spastiken und eine Form der Epilepsie, die man nicht gut einstellen kann. Wir werden von einem Palliativteam versorgt. Ab und an fahren wir auch ins Hospiz nach Bielefeld.
Alessio hat in den letzten zwei Jahren sehr stark abgebaut. Er sieht kaum noch etwas und hört sehr schlecht. Das einzige, was er uns ab und zu schenkt, ist ein Lächeln. Ein wunderschönes Lächeln.
Mir als Mutter tut das sehr weh. An manchen Tagen verstecke ich mich im Keller und weine mir meinen Schmerz von der Seele. Ich sehe meinen kleinen Schatz immer noch im Garten rumspringen und Fussball spielen. Abends hat er sich immer an mich gekuschelt und wollte nie in seinem Bett schlafen.
Während ich das alles aufschreibe, kommen mir die Tränen, denn die Erinnerung an die guten Zeiten tut weh. Hätten wir gewusst, was auf uns zu kommt, dann hätten wir sie viel mehr ausgekostet.
Ich kann nur schwer mit der Situation umgehen, da ich weiss, dass der Abschied für immer bald kommen wird. Dass er schneller kommen wird als ich mich auf ihn vorbereiten kann. Und dann wird mein Herz brechen.
Habt ihr noch weitere Kinder? Wie kommen sie mit der besonderen Familiensituation zurecht??
Unser Söhne hatten am Anfang sehr grosse Probleme mit der Situation. Mit meinem 15-jährigen Sohn bin ich beim Psychologen in Behandlung. Bijon kann nicht verstehen, dass es nichts gibt, das seinen Bruder retten kann. In der heutigen Zeit kann man doch alles heilen. „Fast alles“, muss ich ihm dann sagen. „Fast alles, leider.“
Wenn Bijon mich nicht auf Anhieb findet, wenn er mich sucht, dann macht er sich gleich Sorgen, dass ich mich zurückgezogen haben könnte um zu weinen. Er sorgt sich sehr um seine Mama.
Meinen großen Sohn habe ich zum Auszug gedrängt. Auch er hat viel zu viel Verantwortung übernommen. Das sollten Kinder nicht tragen müssen. Aber tun sie es meist eben doch.
Meine Söhne sind grossartige Kinder. Ich wünschte, sie wären unbelasteter.
Wie sieht Dein Alltag aus?
Unser Alltag spielt sich meist zuhause ab. Wenn gerade kein Pflegedienst da ist, dann kann immer nur einer von uns Eltern das Haus verlassen, einkaufen oder vom Arzt Medikamente holen.
Ich versorge Alessio tagsüber meist allein. Zweimal die Woche kommt eine Krankengymnastin ins Haus. Ansonsten bewege ich Alessio jeden Morgen und jeden Nachmittag durch, damit sich seine Muskulatur löst und er gut abhusten kann.
Abends zwischen 21 und 22 Uhr bringen wir Alessio ins Bett. Da bekommt er seinen letzten Medikamente.
Nachts kümmert sich dann mein Mann um Alessio. Aktuell schlafe ich deswegen im Wohnzimmer. So komme ich zumindest etwas zur Ruhe. Wenn allerdings nachts etwas mit Alessio nicht stimmt, dann stehe ich trotzdem mit auf.
Unser Freundeskreis ist deutlich kleiner geworden, seit wir nicht mehr an einem „normalen“ Leben teilhaben können. Dafür haben wir uns aber einer Selbsthilfegruppe angeschlossen. Gern nehmen wir an den Familientreffen der Gruppe teil, die aus Familien besteht, die alle von der gleichen Krankheit betroffenen sind. Das nächste Treffen ist im Herbst in Würzburg. Hoffentlich schaffen wir es, bis dahin unser Auto behindertengerecht umzubauen.
Was macht Dich im Alltag glücklich? Und welche Momente sind hingegen besonders schwer?
Die Frage ist schwer zu beantworten. Wir leben gerade sehr im Hier und Jetzt.
Wenn alle halbwegs gesund sind, dann macht mich das glücklich. Meine Kinder lachen zu sehen macht mich glücklich.
Am allermeisten macht es mich glücklich, wenn es Alessio gut geht und er schöne Tage hat. Dann können wir alle ein wenig zur Ruhe kommen und Kraft tanken.
Ich liebe es, wenn Alessio mir ein Lachen schenkt. Ein lautes Lachen, bei dem man sein Stimme hören kann.
Es macht mich glücklich, mit Alessio zu kuscheln, ihn zu spüren, sein Haare und Haut zu riechen. Das beruhigt mich und Alessio beruhigt es glaube ich auch.
Ich liebe es zu sehen, wenn mein 15-jähriger Sohn Bijon morgens nach unten kommt und prinzipiell zuerst seinen Bruder begrüßt. Erst danach kommen wir dran. Die beiden hatten schon immer eine sehr innige Beziehung. Alessio hat früher jeden Mittag auf seinen grossen Bruder gewartet, bis er aus der Schule kam. Dann saßen die beiden in Bijons Zimmer und haben zusammen gekuschelt oder Tablet geschaut. Manchmal hat Bijon Alessio auch vorgelesen.
Das war eine richtig schöne Zeit.
Jetzt liegt über unserer Familie ein Schleier vom Trauer und Wut. Oft fragen wir uns warum. Warum wir? Aber natürlich bekommt man darauf keine Antwort. Eine Ärztin sagte mal zu uns, die besonderen Kinder suchen sich ihre Eltern aus.
Ich finde die Vorstellung einerseits tröstlich. Andererseits habe ich aber oft Angst, an der Aufgabe zu zerbrechen.
Schwer ist für mich, wenn es Alessio nicht gut geht. Wenn seine Werte absacken und wir uns wieder fragen müssen, wieviel Zeit mit ihm uns wohl noch bleiben wird.
Ende September steht wieder eine Operation an und wir machen uns Gedanken darum, wie Alessio wohl die Narkose wegstecken wird.
Gleichzeitig nagen dann immer die Gedanken um den letzten Abschied. Wie es einmal werden wird, wenn wir uns für immer von unserem kleinen Engel verabschieden müssen.
Ich kann mir garniert vorstellen, jemals ohne meinen kleinsten Sohn zu leben. Kinder sollen nicht vor ihren Eltern sterben.
Mit diesen Ängsten lebe ich jetzt schon so lange und es wird immer schlimmer.
Ich bin immer sehr traurig, wenn ich mit meinen grossen Kindern unterwegs bin und Alessio kann nicht mitkommen. Es tut mir in der Seele weh, ihn zurücklassen zu müssen.
Wer betreut Dein Kind? Wie habt Ihr die Pflege organisiert?
Alessio betreuen überwiegend wir. Seit ein paar Monaten haben wir aber auch einen Pflegedienst, da wir beide es nicht mehr allein geschafft haben. Der Pflegedienst kommt drei- bis viermal mal die Woche. So haben wir wieder etwas Zeit für uns und für die anderen Kinder. Wenn der Pflegedienst nicht da ist, mach ich die Tagschicht und mein Mann die Nachtschicht. Bis jetzt klappt das gut, nur kann im Moment keiner von uns arbeiten gehen.
Ich habe die Pflege lange ganz allein gemacht, damit zumindest mein Mann arbeiten gehen kann. In den letzten anderthalb Jahren, wo es Alessio auch zunehmend schlechter ging, hatte ich drei Zusammenbrüche. Dann haben wir die Reißleine gezogen.
Was machst Du beruflich? Und wie sieht Dein Arbeitsalltag aus?
Ich bin gelernte Altenpflegerhelferin mit einer Zusatzausbildung für Demenzerkrankungen. In diesem Beruf hab ich fast 15 jahre gearbeitet. Als aber Alessio so krank wurde, bin ich dann zuhause geblieben um mein Kind zu versorgen.

Familie Cilli am Meer (c) Silvana Cilli

Was bedeutet Urlaub für Euch?
Wir hatten unseren letzten Urlaub in 2016. Da hat der TUS Heiden ein Benefizturnier für uns veranstaltet und es kam genug Geld zusammen. Das war der einzige Urlaub, den wir je mit Alessio hatten, und er war wunderschön. Es war zwar recht kalt an der Ostsee, aber Alessio fand es großartig.
Wir würden so gern mit Alessio noch einmal ans Meer fahren, seine Füsse ins Wasser halten und einfach die schöne Seeluft riechen. Das wäre das grösste.
Aber leider ist das jetzt nicht mehr so einfach, da Alessio viele Geräte benötigt und er nicht mehr so einfach zu transportieren ist.
Das einzige, was für uns an Urlaub noch möglich ist, ist ins Hospiz nach Bethel zu gehen.
Mehr ist nicht drin, denn dadurch, dass wir beide nicht arbeiten gehen können, fehlt leider auch das nötige Kleingeld.
Urlaub würde für uns bedeuten, einmal alle Trauer und alle Sorgen vergessen zu können. Alles einmal hinter uns zu lassen und eine unbeschwerte Zeit zu haben. Wir als Familie.
Welche Wünsche und Pläne habt Ihr für die Zukunft?
Unsere Wünsche sind mit der Zeit geschrumpft. Ich würde gern soviel Zeit wie möglich mit Alessio verbringen. Ich wünsche mir so sehr für Alessio, dass er die nächste OP gut übersteht und sich rasch erholt.
Ansonsten wünsche ich mir für uns alle, dass wir gesund bleiben und noch viele schöne Stunden erleben dürfen.
Sie haben Interesse, Ihre Geschichte mit uns zu teilen? Dann freuen wir uns auf Ihre Kontaktaufnahme unter info@philip-julius.de.

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