Der politische Wahlkampf ist eine sehr spezielle Zeit. Die Parteien und ihre Spitzenkandidaten übertreffen sich mit Parolen und Versprechungen, die Medien gieren nach Schlagzeilen. Eigentlich eine gute Zeit für Politik und Medien, um wichtige Themen zu platzieren und Debatten anzustoßen. Kommt dann noch ein passender Impuls von außen, ist eigentlich alles perfekt angerichtet. Eigentlich. Dass es manchmal ganz anders kommt, müssen Menschen mit Behinderung und deren Angehörige derzeit leidvoll erfahren. Denn trotz einer Steilvorlage wird das gesellschaftlich so immens wichtige Thema Inklusion von den Parteien und den Medien hartnäckig ignoriert.
Ein Essay von Marco Hörmeyer
Im August fiel der Startschuss für die Aufklärungskampagne #OrteFürAlle von Aktion Mensch. Ganz bewusst im Vorfeld der Bundestagswahl lanciert, soll die Print-, TV- und Social Media-Kampagne plastisch zeigen, welche Barrieren Menschen mit Behinderung überwinden müssen, um am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Über die Kampagne lässt sich sicherlich diskutieren – zeigt sie doch lediglich die sichtbaren Barrieren und nicht die unsichtbaren. Dennoch stößt diese Kampagne eine wichtige Debatte darüber an, wie die noch immer vorhandenen Barrieren abgebaut und die bisher eher spärlichen Inklusionsbemühungen ausgebaut werden können.
Zudem ist der Titel der Kampagne gut gewählt. Es wäre so einfach und naheliegend, eigene Ideen, Impulse und Konzepte daran anzudocken und schlagzeilenträchtig mit dem einprägsamen Titel zu spielen. Denkbar wären Slogans wie #WohnenFürAlle, #MobilitätFürAlle, #SportFürAlle oder #KulturFürAlle für inklusive Wohn-, Mobilitäts-, Sport- und Kulturprojekte. Auch ein Städtename ließe sich damit verbinden wie zum Beispiel #OsnabrückFürAlle – um herauszustellen, wie Inklusion in der jeweiligen Kommune verankert und gelebt werden kann. Was für eine Steilvorlage insbesondere für die Kommunalpolitik und die Spitzenkandidaten in Wahlkampfzeiten! Ein gefühlter Elfmeter ohne Torwart.
Nun die Probe aufs Exempel: Hat die Politik diesen Elfmeter im aktuellen Bundestags- und – wie konkret vor meiner Haustür – insbesondere im Kommunal- bzw. Oberbürgermeister-Wahlkampf verwandelt? Die einfache wie erschreckende Antwort: Nein. Anstatt #OrteFürAlle müsste es vielmehr #Keine(W)OrteFürAlle heißen. Inklusion wird ja gerade vor Ort, in den Städten und Gemeinden erlebbar – findet aber in den Programmen und in den Debatten de facto kaum statt. Keine Worte, keine Ideen, keine Impulse, keine Konzepte. Nichts. Ein Armutszeugnis.
Doch woran liegt es, dass insbesondere die Kommunalpolitik vor Ort das Thema Inklusion so beharrlich ignoriert? Vermutlich ist es manchmal gar mangelnder Wille und Kalkül. Schließlich schielen Politiker auf große Wählergruppen – und Menschen mit Behinderung und deren Angehörige werden hier nicht gesehen. Welch ein Trugschluss. Oftmals liegt die Ignoranz aber auch mangelnde Aufklärung und mangelndes Wissen über Inklusion zugrunde. Noch immer denken viele in der Kommunalpolitik, dass Inklusion einfach nur viel Geld kostet – und scheuen daher die Debatte. Dass Inklusion aber eher eine Willensfrage anstatt einer Geldfrage ist und dass gelingende Inklusion ein Gewinn für eine funktionierende Stadtgesellschaft ist – dieser Aha-Effekt muss erst noch ausgelöst werden.
Es ist aber nicht nur die Politik, die das Thema Inklusion hartnäckig ignoriert. Die Medien verweigern ebenso penetrant eine Berichterstattung. Werden Kandidaten nach bestimmten Themen befragt, wird Inklusion nicht mal erwähnt. In den Lokalzeitungen scheint es das Thema nicht zu geben. Der Grund dafür ist einfach – und konstruiert: Das Thema sei zu komplex, zu erklärungsbedürftig, biete keine Schlagzeilen und werde daher nicht geklickt. Im Journalisten-Deutsch bedeutet das: Inklusion hat keinen Gesprächswert, interessiere somit niemanden und fällt daher raus. Fertig, aus. Dass die Medien mit dieser Haltung eine gar nicht mal so kleine gesellschaftliche Gruppe ausgrenzen und die Inklusion gar torpedieren, wird – so scheint es – achselzuckend und gleichgültig hingenommen. Klickzahlen regieren die Medienwelt, da fällt der eigentliche Bildungsauftrag schnell mal hinten runter. Auch ein Armutszeugnis.
Diese Entwicklung ist nicht nur äußerst bedenklich – sie ist fatal und in unserer sich immer schneller drehenden Welt nicht aufzuhalten. Umso wichtiger ist es, dass Menschen mit Behinderung und deren Angehörige die Hintergründe dieser Entwicklung hin zum „Schlagzeilen- und Skandalisierungs-Wahlkampf“ kennen und verstehen. So lässt es sich viel leichter damit umgehen – und so lassen sich Ideen und Strategien entwickeln, der hartnäckigen Ignoranz zu begegnen. Darauf zu warten, dass sich Politik und Medien dem Thema Inklusion annehmen, ist jedenfalls keine gute Strategie. Proaktiv und mutig Netzwerke zu bilden, gemeinsam Inklusions-Ideen und -Projekte vor Ort zu entwickeln und als entsprechendes #ProjektFürAlle zu positionieren, ist hingegen wesentlich zielführender. Sind die Ideen und Projekte erfolgreich, dann werden auch Politiker und Medienschaffende irgendwann hellhörig. Und wir können selber entscheiden, wen wir für unsere Ideen und Projekte benötigen.
Zum Autor: Marco Hörmeyer, Jahrgang 1973, ist gebürtiger Osnabrücker, lebt und arbeitet in Osnabrück, ist Journalist und Vater der 14-jährigen Amelie. Amelie ist aufgrund eines massiven Sauerstoffmangels unter der Geburt und der daraus resultierenden bilateralen spastischen Cerebralparese mehrfach schwerstbehindert. Sie hat einen hohen Pflegebedarf (Pflegegrad 5) und muss rund um die Uhr betreut und gepflegt werden. Seit 2016 betreibt und schreibt Marco Hörmeyer aus der Perspektive seiner Tochter den Blog „Amelie Wundertüte“ auf www.amelie-wundertuete.de.